Zu wenig Kontrolle? Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ).

Foto: Corn

Manchmal kann auch ein Schnitzel zum Notfall werden. Jedenfalls in Wien. Als Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) inmitten der Pandemie die Wiener mit Gastro-Gutscheinen versorgte, tat er das zunächst über seine sogenannte Notkompetenz. Diese erlaubt ihm, in "dringlichen Fällen" Verfügungen zu treffen, für die eigentlich Gemeinderat oder Stadtsenat zuständig sind. Das darf er dann, wenn jedes Zuwarten "Nachteil für die Sache" bedeuten würde. Diese in der Stadtverfassung geregelte Notstandsregelung nutzte Ludwig Mitte 2020 beim Wiener Gastro-Gutschein, ausgegeben hat er damals 40 Millionen Euro.

Nun geht es um etwas mehr. 1,4 Milliarden Euro, also das 35-fache Schnitzelvolumen, hat Ludwig im Alleingang dem ins Straucheln geratenen Versorger Wien Energie zuschießen lassen. Die ersten 700 Millionen Mitte Juli, die zweiten Ende August. Gemäß Stadtverfassung muss er das "unverzüglich" dem Gemeinderat nachträglich zur Genehmigung vorlegen, das wird im September geschehen.

So wurde ein Instrument öffentlich bekannt, das zwar öfter zur Anwendung kommt, bisher aber kaum aufgefallen ist. Die Frage, die sich nun stellt: Ist es vernünftig, eine so weitreichende und betragsmäßig unbegrenzte Entscheidungsbefugnis in eine Hand zu legen – ohne jegliche Kontrolle? Und: Seit wann gibt es diese Bestimmung?

Nicht nur Wiener Phänomen

Die Grazer Rechtsanwältin Elisabeth Paar und ihr Kanzleikollege Dieter Neger haben anlässlich der Corona-Pandemie und entsprechender Maßnahmen der Bürgermeister die verschiedenen Vorschriften unter die Lupe genommen und kamen dabei zum Schluss, dass "trotz terminologischer Abweichungen in jeder Gemeindeordnung dem Grunde nach das Recht des Bürgermeisters" verankert sei, derartige Notmaßnahmen zu setzen.

Es handelt sich also nicht nur um ein Wiener Phänomen. Dabei ist auffallend, dass in den vielen Gemeindeordnungen nicht fix umschrieben ist, was die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im Rahmen ihrer Notkompetenz dürfen. Das ist insofern beachtlich, als in diesem Rahmen getätigte Rechtsgeschäfte auch dann wirksam bleiben, wenn der Gemeinderat später seine Zustimmung verweigern sollte.

Üblicherweise geht es bei der Notkompetenz um Maßnahmen zur Abfederung von Katastrophen. Wenn es etwa nach einem Lawinenabgang nötig ist, schnell Schneeräumgeräte zu requirieren. Sind damit auch Zuschüsse wie jener an die Wien Energie abgedeckt? Das ist nicht unumstritten. Der Generalsekretär des Österreichischen Gemeindebunds, Walter Leiss, meint zwar, man müsse das "anlassbezogen" sehen. Nach seiner Einschätzung stünden Finanzkatastrophen aber nicht im Fokus dieser gesetzlichen Regelung.

Regelungen, die es jedenfalls schon lange gibt. Bereits in der Wiener Stadtverfassung von 1920 findet sich eine Bestimmung mit identem Wortlaut. Eine Recherche der Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal zeigt, dass die Notkompetenz aus der Zeit der Monarchie stammt: Es gab sie schon im Provisorischen Reichsgemeindegesetz von 1849. Die Regelung wird seither in ähnlichem Wortlaut genutzt, sie wurde in den Rechtsbestand der Ersten und Zweiten Republik übernommen.

Ohne Telefon und Mail

Der Innsbrucker Verfassungs- und Verwaltungsjurist Peter Bußjäger erklärt den Ursprung der Regelung auch mit technischen Gegebenheiten: Früher habe die Kontaktaufnahme mangels Telefon oft lang gedauert. Weil das Zusammenrufen des Gemeinderats also Zeit in Anspruch nehmen konnte, sei den Bürgermeistern das rasche Eingreifen erlaubt worden.

Eine sehr alte, unpräzise Regelung also, die, wie am Beispiel Wien Energie zu sehen, weitreichende Folgen haben kann. Gehören die Bestimmungen geändert, was sagen die Parteien dazu? Erstaunlich wenig. Zuständig für Änderungen wären die Landesgesetzgeber, aber wie die Causa Wien Energie zeigt, hat die Angelegenheit natürlich auch bundespolitische Bedeutung.

Aus dem ÖVP-geführten Finanzministerium kam auf die Frage nach dem Reformbedarf am Freitag keine Antwort. Die Wiener Grünen wollen künftig immerhin umgehend informiert werden, wenn der Bürgermeister seine Notkompetenz nutzt, sagt David Ellensohn.

Beim Koalitionspartner der Wiener SPÖ, den Neos, heißt es vorsichtig, dass die Kontrollrechte des Gemeinderats in Wien gestärkt gehören, "eine mögliche Evaluierung der Notkompetenz kann Teil dieses Prozesses sein". Die Bundes-SPÖ geht das Thema nicht offensiv an. Monokratische Entscheidungsstrukturen gebe es auf vielen Ebenen, nicht nur bei Bürgermeistern, sagt SPÖ-Abgeordneter Christoph Matznetter. Wenn, dann müsse man die Reformdebatte auf allen Ebenen führen.

Was die Macht der Wiener Bürgermeister insgesamt betrifft, sei die jedenfalls sehr groß, konstatiert der inzwischen emeritierte Universitätsprofessor Manfried Welan, in seinem 1992 geschriebenen Buch "Der Bürgermeister der Stadt Wien. Darin hielt er sinngemäß fest, dass "der Kaiser beim Untergang der Monarchie von der Hofburg ins Rathaus gezogen" sei. (Renate Graber, András Szigetvari, 3.9.2022)