Nach ihrem Staatsopernauftritt als Mimi in Puccinis "La Bohème" am Montagabend wird Anna Netrebko am Samstag beim Benefiz "Austria for Life" im Schönbrunner Ehrenhof singen.

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FÜR

Im März stellte Anna Netrebko in einem offiziellen Statement fest: "Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich." Ein mutiger Akt: Für die Verwendung des Begriffs "Krieg" drohten in Russland da schon mehrjährige Haftstrafen. Oligarchen, die den Krieg kritisiert hatten, starben seitdem unter dubiosen Umständen, oft auch deren Familienmitglieder. Netrebko hat nahe Verwandte und Freunde in Russland. Nach ihrer Erklärung wurde die Sängerin von der Oper in Nowosibirsk ausgeladen, Auftritte in ihrer Heimat kann die 50-Jährige für lange Zeit vergessen.

Im Westen sind die Diskussionen um den Weltstar nach wie vor hitzig. Aber kommt die Aufregung hier nicht zu spät? Als Netrebko Ende 2014 nach der russischen Krim-Annexion eine Million Rubel für das beschädigte Donezker Opernhaus spendete und sich dabei mit einem Separatistenführer fotografieren ließ, waren die Proteste so handzahm wie die politischen Reaktionen auf Putins Landnahme. Bis Februar wurde die Russin mit österreichischer Staatsbürgerschaft und Steuernummer allerorten umgarnt. Nun ist sie zur Watschenfrau der Empörten im sicheren, meinungsfreien Westen geworden.

Haben diejenigen, die sich über Netrebko erregen, beim Anblick ihrer niedrigen Gasrechnung in den vergangenen Jahren auch gegen die kostengünstigen Rohstoffe aus Russland protestiert? Da machen es sich einige zu leicht. Sicher: Anna Netrebkos Haltung zur russischen Spitzenpolitik war lange opportunistisch und naiv. Und wenn Operndiven und Realitätsnähe auch zwei Dinge mit überschaubarer Schnittmenge sind, so zeigt Netrebkos Statement doch, dass bei ihr offenbar ein Sinneswandel eingetreten ist. Das sollte man anerkennen. (Stefan Ender)


WIDER

Jeder Spielzeitauftakt versetzt die Kulturinstitutionen zurück: in den Stand der Unschuld. Ob an der Staatsoper oder in anderen Häusern, überall schwingt das Gelöbnis mit, alles neu und besser zu machen. Die Menschen plagen genug Sorgen: die Furcht vor Kälte, das Staunen über die Preisexplosion. Da wird es den Freunden der Wiener Staatsoper doch noch gestattet sein, sich reuelos des berückendsten Schöngesangs zu erfreuen? Anna Netrebko kommt und singt dreimal im Haus am Ring die Partie der Mimi in Puccinis La Bohème.

Doch mit einem solchen Beharren auf der Entlastung von Krieg und Wirtschaftschaos ist es im Falle Netrebkos nicht getan. Bis heute hat es die russisch-österreichische Doppelstaatsbürgerin an einem Ausdruck glaubwürdiger Betroffenheit fehlen lassen. Ihre Distanzierung von Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine glich einem unansehnlichen Balanceakt auf dem Drahtseil der Hochmoral.

Netrebko inszenierte sich als brave russische Patriotin, die ihren Präsidenten im Ausland nicht noch extra anschwärzen darf. Ihr Abrücken von einem notorischen Kriegsverbrecher mag aus Rücksicht auf die Familie halbherzig ausgefallen sein. Es nährt aber den Verdacht, dass Netrebko einem bürgerlichen Mythos aufsitzt: Ihm zufolge bleibt moralisch unantastbar, wer über eine außerordentliche Begabung verfügt. Auch die Befähigung zum Gesang wiegt folgende Besorgnis nicht auf: Eine Operndiva könnte sich alle Türen gleichermaßen offenhalten wollen – und damit auch den Zugang zu einem Verursacher unvorstellbaren Leids. Ein Staatsoperndirektor sollte die Verfänglichkeit des Eindrucks nicht einfach vom Tisch wischen. (Ronald Pohl)