
Im Februar präsentierte Ulrich Seidl wohlgemut seinen Film "Rimini" auf der Berlinale. Im Vorfeld der Premiere von dessen zweitem Teil, "Sparta", stehen Vorwürfe gegen Seidl im Raum.
Ulrich Seidls neuer Film Sparta soll Ende dieser Woche beim Internationalen Filmfestival in Toronto uraufgeführt werden und ist das brüderliche Gegenstück zu Rimini, der heuer bereits auf der Berlinale Premiere feierte. Anstelle des Schlagerstars Richie Bravo steht in Sparta dessen Bruder Ewald (Georg Friedrich) im Fokus, der in einer ländlichen Gegend Rumäniens mit Kindern eine Schule umbaut und dort seine unterdrückten pädophilen Neigungen entdeckt.
Seidl und sein Team werden wie berichtet vom Spiegel mit folgenden Vorwürfen konfrontiert: Zum einen sollen weder die Minderjährigen zwischen neun und 16 Jahren noch ihre Eltern darüber informiert worden sein, dass es in dem Film um Pädophilie gehe – in Gesprächen mit den Eltern soll nur die Rede davon gewesen sein, dass Ewald eine Art "Vaterstelle" einnehme und "sich zu den Jungen hingezogen" fühle.
Des Weiteren sei den Eltern der Besuch der Dreharbeiten verweigert worden. Einzelne Szenen, worin die Kinder unvorbereitet und ohne ausreichende Betreuung mit Alkoholismus, Nacktheit und Gewalt konfrontiert wurden oder genötigt worden seien, sich auszuziehen, wurden als grenzüberschreitend und traumatisierend empfunden. Schließlich soll wegen des Filmdrehs eine Anzeige bei der lokalen Polizei eingegangen sein, die Ermittlung wurde jedoch eingestellt. Seidl dementierte die Anschuldigungen in einer Presseaussendung und bezeichnet sie als Verzerrung und Diffamierung seiner Arbeitsweise.
Immer wieder Kritik
Kritik an seinen Filmen ist Seidl gewohnt. Seit seinen ersten Erfolgen zu Beginn der 1990er-Jahre wurde er wahlweise als genialer Grenzgänger oder als sadistischer Voyeur bezeichnet. Die erste große Welle der Empörung entbrannte an seiner Dokumentation Tierische Liebe. Der ORF verweigerte damals die Ausstrahlung, Werner Herzog sagte, man habe "niemals so tief in die Hölle gesehen". Seither stand wiederholt der Vorwurf im Raum, Seidl nutze seine Darsteller, häufig Laien aus sozial schwachen Schichten, aus.
Seidls Themen und seine formale Strenge unterstreichen den Vorwurf des Zur-Schau-Stellens: Immer hält Seidl in seinen tableauartigen Ausschnitten lange drauf auf das Abgründige, Schiache und Tiefe. Sein Werk changiert zwischen Sozialkritik und Sozialpornografie, zwischen kaltschnäuzigem Ausstellen und interessiertem Porträt. Die Wahrnehmung und Beurteilung seiner Filme können nicht von seinen Protagonisten getrennt werden. Zur Methode des Regisseurs hält etwa die Filmwissenschafterin Corina Erk fest, dass der Regisseur eine "die Grenzen der Darsteller auslotende Arbeitsweise" pflege, "zwar in immer ähnlich zusammengesetzten Teams, aber durchaus autokratisch agierend".
Vorwürfe bei "Im Keller"
Er arbeitete häufig mit Laien, halte sich an keine Drehbücher, und, so wird Seidl von Erk zitiert: "Ich provoziere oder animiere die Darsteller, damit etwas vor der Kamera passiert, das nicht von vornherein festgelegt wurde." Vorwürfe vonseiten der Porträtierten wurden bisher nur bei Im Keller laut. Die saufenden ÖVP-Gemeinderäte sahen sich als Statisten missbraucht, dem NS-Devotionalien-Besitzer drohte eine Klage wegen Wiederbetätigung. Seidl schlug sich auf die Seite des Altnazis.
Er habe vor all seinen Darstellern Respekt, betont er in seinem Statement zu Sparta. Außerdem widerspricht er dem zentralen Vorwurf, dass er das Unwissen und die finanzielle Lage des rumänischen Laiencasts sowie die laxeren Kinderschutzbestimmungen vor Ort ausgenutzt habe, und suggeriert stattdessen, dass den Darstellern die Vorwürfe durch die Spiegel-Reporter in den Mund gelegt worden seien, indem diese Angst geschürt hätten, dass der Film explizite, pädokriminelle Sexszenen enthalte. Dies sei nicht der Fall. Dennoch scheint die Frage auch angesichts seiner früheren Filme berechtigt, wem sein Respekt eigentlich gilt: seinen schwierigen Hauptfiguren oder den Statisten, die, wie etwa Richie Bravos Tochter und deren arabischer Freund in Rimini, gern der Illustration der inneren Konflikte Ersterer dienen.
Orchestrierter Shitstorm?
Die Reaktionen auf den Spiegel-Bericht sind geteilt. Wo sich manche in ihrer Ablehnung von Seidls Filmen bestätigt fühlen, werfen sich andere zu Apologeten des "Grenzgänger-Regisseurs" auf und wittern einen orchestrierten "Shitstorm". Christine Dollhofer vom Filmfonds Wien, der Sparta mitfinanzierte, stellte klar, dass man die Vorwürfe ernst nehme: "Die Einhaltung der Fürsorgepflicht durch den Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin ist dem Filmfonds Wien ein grundsätzliches Anliegen […]. Bei der Mitwirkung von Kindern gilt diese Pflicht in besonderem Maße."
Das Filmfestival in San Sebastián scheint bislang an der Europapremiere von Sparta festzuhalten. Wie allerdings das Filmfestival von Toronto reagiert und ob noch weitere Vorwürfe laut werden, wird sich im Laufe der Woche zeigen. (Valerie Dirk, 5.9.2022)