Vor 18 Jahren entdeckten Bauarbeiter bei Grabungsarbeiten in Zentrum der englischen Stadt Norwich menschliche Knochen. Weitere Untersuchungen des Geländes förderten einen alten Brunnen zutage, in dem man die Überreste von sechs Erwachsenen und elf Kindern fand. Da sich dieser Ort außerhalb des geweihten Geländes befand, lag der Verdacht nahe, dass die Toten Opfer von Gewalt, Krankheiten oder Hungersnöten geworden waren. Zudem waren die Leichen augenscheinlich kopfüber in den Brunnen geworfen worden.

Ihre Identität konnte bis jetzt allerdings nicht eindeutig geklärt werden, auch wenn es Vermutungen gab, dass sie jüdischer Herkunft gewesen sein dürften. Ein interdisziplinäres Team von englischen Fachleuten aus den Bereichen Populationsgenetik, Genomik und Geschichte hat nun in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Current Biology" weiteres Licht ins Dunkel gebracht und den "Cold Case" mehr als 800 Jahre später mithilfe von alter DNA wohl endgültig gelöst: Die 17 Personen dürften tatsächlich Opfer eines antisemitischen Massakers geworden sein.

Der Ort in Norwich, an dem die Gebeine gefunden wurden.
Foto: Selina Brace et al., Current Biology 2022

Interdisziplinäre Untersuchungen

Im ersten Schritt war der Fund schon vor einigen Jahren einer Radiokohlenstoffdatierung unterzogen worden. Diese ergab, dass die Leichen zwischen 1161 und 1216 an diesem Ort in Norwich vergraben worden waren, das damals die zweitgrößte Stadt Englands war. Erste Analysen der DNA der Knochen deuteten darauf hin, dass drei von ihnen Schwestern waren. Zudem zeigte sich, dass mindestens eine der Personen von einer kürzlich erfolgten Verbindung zwischen zwei nahen Verwandten abstammte.

Im nächsten und entscheidenden Schritt verglich das Team um Erstautorin Selina Brace (Natural History Museum in London) die erhaltenen Gensequenzen von sechs der Individuen mit den Genomen von mehr als einem Dutzend moderner westeurasischer Populationen. Diese Auswertung ergab, dass die sechs Personen enger mit heutigen aschkenasischen Jüdinnen und Juden verwandt sind als mit der heutigen nichtjüdischen Bevölkerung in England.

Die Leichenfunde am Boden des aufgelassenen Brunnens.
Foto: Giles Emery/NPS Archaeology

Disposition für Erkrankungen

Darüber hinaus zeigte die alte DNA, dass die Toten eine Veranlagung für einige genetische Erkrankungen hatten, etwa für primäre ziliäre Dyskinesie, eine seltene Atemwegserkrankung, die bei modernen Aschkenasim relativ weit verbreitet ist. Mithilfe von Computersimulationen fanden die Forschenden zudem heraus, dass die Anzahl dieser genetischen Krankheitsvarianten bei den sechs Personen etwa jener Zahl entsprach, die bei der heutigen aschkenasischen jüdischen Bevölkerung zu erwarten wäre.

Mittelalterliche Darstellung von Angriffen auf zwei jüdische Personen (in der Mitte) aus einem Manuskript des 13. Jahrhunderts.
Illustration: gemeinfrei / Wikimedia

Diese Resultate bestätigen damit die bisherige Vermutung, dass es sich bei den Leichen um Opfer eines antisemitischen Massakers handelt, das 1190 für Norwich belegt ist. Jüdinnen und Juden, die sich erst ab 1066 unter Wilhelm I. in England ansiedeln durften, hatten sich auch in Norwich niedergelassen.

Ende des 12. Jahrhunderts gab es dann das antisemitische Gerücht, dass Juden christliche Kinder entführen und für ihre Rituale missbrauchen würden, was zu Pogromen führte. Die verbliebenen 3.000 Jüdinnen und Juden wurden dann im Jahr 1290 endgültig und für Jahrhunderte von der Insel verbannt.

Neue Aufschlüsse über "Flaschenhals"

Die Studie wirft aber auch neues Licht auf den genetischen Flaschenhals, der als Grund für bestimmte Erbkrankheiten der Aschkenasim gilt. Nach bisherigen Annahmen schrumpfte die jüdische Bevölkerung vor 500 bis 800 Jahren stark, was zu einem sprunghaften Anstieg der Häufigkeit seltener genetischer Varianten geführt haben dürfte. Wenn aber die aschkenasischen Juden im zwölften Jahrhundert bereits für diese Krankheiten anfällig waren, ändert sich die bisherige Datierung dieses Flaschenhalses.

Ausführliche britische Dokumentation über den "Cold Case".
Reel Truth History Documentaries

Co-Autor Ian Barnes (Natural History Museum London), der den Fall seit zwölf Jahren erforscht, stand während des gesamten Prozesses in Kontakt mit der jüdischen Gemeinde von Norwich. Die Gemeinde hatte die sterblichen Überreste bereits 2013 nach einer früheren, weniger aussagekräftigen DNA-Analyse auf dem jüdischen Friedhof begraben. Die neue Studie liefert nun nachträglich die endgültige Bestätigung, resümiert Barnes in einem Bericht im Fachblatt "Nature": Die Überreste seien korrekt auf dem richtigen Friedhof und mit den richtigen religiösen Riten beigesetzt worden. (tasch, 5.9.2022)