Ein Mann verlässt frühmorgens das Haus in der Eccles Street Nummer sieben. Wir sind in Dublin, der irischen Hauptstadt. Ziellos streift er durch die Straßen, nimmt an einer Beerdigung teil, geht zwischendurch essen, traut sich nicht nach Hause, um seine Frau Molly, die ihn vermutlich betrügt, nicht zu stören. Er wird von einem Antisemiten verfolgt, geht zum Strand, füttert Möwen, trifft eine junge Frau und träumt sich in erotische Fantasien.

Leopold Bloom, ein Meter 75 groß, Anzeigenvertreter, 38 Jahre, ist kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern eine Romanfigur. Seine Geschichte, auf 1000 Seiten in "Ulysses" beschrieben, ist eine Odyssee, eine Irrfahrt in 18 Kapiteln während eines einzigen Tages. Der irische Nationaldichter James Joyce wählte den 16. Juni 1904, das Datum der ersten Begegnung mit seiner späteren Frau Nora Barnacle.

Als lebensgroße Bronzefigur steht James Joyce seit 1990 in der North Earl Street in der Dubliner Innenstadt. Als großer irischer Autor galt er schon davor.
Foto: iStockphoto; Michael Marek (2)

"Bloomsday" wird alljährlich von den Dublinern geradezu zelebriert und zugleich von den Stadtoberen touristisch vermarktet. Dann fahren blankgeputzte Oldtimer durch die Straßen. Am Steuer sitzen Herren mit schwarzem James-Joyce-Hut und einer Fliege um den Hemdkragen. Oder sie "verkleiden" sich wie Maite López-Schröder: "Wir haben uns mehrere Jahre lang als ‚Healy’s Men‘ angezogen. Das sind Männer, die in "Ulysses" beschrieben werden und als eine Art lebende Werbung durch die Stadt gehen", erklärt die Autorin und Wahl-Dublinerin, die zusammen mit ihrem Mann ein Taschenbuch geschrieben hat: "Joyce for Dummies."

100 Jahre nach dem Erscheinen von "Ulysses" stehen dicht gedrängt vor den Dubliner Pubs "Joyceaner": Die Frauen tragen enge Kleider, die bis zu den Knöcheln reichen – ganz der Mode um 1922 entsprechend –, dazu auffällige, mit Blumen verzierte, riesige Strohhüte und Sonnenschirme; die Männer mit einer runden Brille auf der Nase. Anschließend geht es auf einen Stadtrundgang, zu einer Lesung, einer Fahrrad- und Bustour, einer Theater- oder Filmvorführung, erklärt der Journalist und "Ulysses"-Fan Senan Molony: "Im Buch sind sage und schreibe 400 Gewerbebetriebe und Gebäude aufgeführt. Dadurch entsteht ein wirklich außergewöhnlich detailliertes Bild der Stadt." Zum Glück sehe Dublin noch immer ein wenig wie zu Joyce’ Zeit aus, sagt der Journalist vom "Irish Independent".

Dublin feiert den 100. Geburtstag eines Buches.
Fotos: iStockphoto; Michael Marek (2)

Leopold Blooms Streifzug durch Dublin ist bis ins kleinste Detail nachprüfbar. Erzählt mit beeindruckender Genauigkeit, hat Joyce Dublins Straßen beschrieben, Parks, Restaurants – und Geschäfte. Er plane, in seinem Roman ein dermaßen vollständiges Bild Dublins zu geben, sagte Joyce damals, dass die Stadt, sollte sie einmal vom Erdboden verschwinden, nach dem Buch rekonstruiert werden könne.

Trödelnd

"Er ging trödelnd an den Fenstern von Brown Thomas, Seidenhändler, vorüber. Kaskaden von Bändern. Dünne China-Seiden", heißt es in "Ulysses". Auch Brown Thomas gibt es noch immer – in der Grafton Street, der größten und zugleich teuersten Konsummeile in Dublin. Die Erben des Seidenhändlers waren erfolgreich und haben eine Kauf-hauskette gegründet. An ihrem Laden findet man, wie überall in der Stadt, kleine Bronzetafeln – Schilder, die Auskunft darüber geben, welche Szene aus "Ulysses" an diesem Ort spielt und wann sich Leopold Bloom hier aufgehalten hat.

Nicht weit von der Grafton Street entfernt: Ulysses Rare Books. Lange Zeit lag im Fenster der Buchhandlung eine der wenigen Erstausgaben des Romans. Erst vor kurzem wurde sie zum Schnäppchenpreis von 30.000 Euro verkauft. Späte Wiedergutmachung für einen unbequemen Autor: Jahrelang konnte man "Ulysses" nach seinem Erscheinen im Jahre 1922 in keiner irischen Buchhandlung kaufen. Der Roman galt als anstößig, pornografisch. Mittlerweile ist die alljährliche Joyce-Feier auf der Grünen Insel eine Staatsaktion sondergleichen.

Ein Joyceaner am Bloomsday

Das James Joyce Centre ist eine aristokratische Stadtvilla des 18. Jahrhunderts und wurde in den 1980er-Jahren restauriert. Im Erdgeschoss findet gerade die Probe einer Theatergruppe statt. Es treffen sich Lesegruppen, um "Ulysses" auf die literarische Spur zu kommen. Während der Covid-19-Pandemie wurden Vorträge und Lesungen online abgehalten – mit einem weltweiten Publikum, sagt Darina Gallagher stolz, Direktorin des James Joyce Centre: "Mir wird häufig die Frage gestellt: Warum ist "Ulysses" 100 Jahre nach seiner Veröffentlichung immer noch wichtig? Ich glaube, das Buch eröffnet einen Dialog über so viele Themen, mit denen wir uns in Irland erst jetzt beschäftigen: Kinderarmut zum Beispiel oder die Geschlechterfrage. Denken Sie an die politischen Herausforderungen für Irland – 100 Jahre nach der Staatsgründung. Joyce bietet uns mit "Ulysses" ein Forum für all diese Debatten."

Zitronenseife von Sweny’s

Im Buch besucht Bloom auch den Drogisten Sweny am Lincoln Place, der in einem kleinen, weiß gestrichenen Geschäft residiert. Er existiert noch immer und bestätigt Blooms Erkenntnis: "Drogisten ziehen selten um!"

An diesem Tag steht vor dem Laden eine bunt gekleidete Gruppe "Ulysses"-Fans. Angeführt wird das Häuflein von einem schwarz gekleideten Bloom-Darsteller, der die kleine Ladenszene nachspielt. Beim Öffnen der weißen Ladentür scheppert die Glocke laut und eindringlich. Es riecht nach altem Mobiliar, nach vergangener Blütezeit, süßlich, verstaubt – und natürlich nach der berühmten Zitronenseife, bis heute der Verkaufsschlager der Apotheke. Seit 2009 steht Patrick Joseph Murphy im weißen Apothekerkittel mit dunkler Fliege hinter dem Tresen von Sweny’s. Zur Begrüßung gibt es erst einmal einen Tee mit Milch und Zucker.

Apotheker Patrick Joseph Murphy mit der berühmten Zitronenseife aus "Ulysseus".

"Der Laden ist so berühmt, weil Bloom im fünften Kapitel von seiner reizenden Frau Molley dorthin geschickt wird", erklärt Murphy. "Er soll ihre Gesichtscreme kaufen. Und da Bloom ein typischer Ehemann ist, vergisst er das Rezept. Also muss der Apotheker in seinem Rezeptbuch nachschlagen. Und dabei beschreibt Leopold Bloom, wie die Apotheke aussieht." Sweny’s liegt am Lincoln Place in unmittelbarer Nachbarschaft zum berühmten Trinity College und ist ein unscheinbarer Laden, nicht größer als ein Wohnzimmer. Das viktorianische Gebäude stammt aus dem Jahr 1847, die Apotheke unter dem Namen "F. W. Sweny and Co" eröffnete hier 1853. Das Interieur ist seitdem kaum verändert worden, der Besuch gleicht einer Zeitreise ins 19. Jahrhundert, als Irland noch unter britischer Herrschaft stand und Königin Viktoria auf dem Thron saß.

Tägliche Verehrung

Sweny’s ist ein Heiligtum für Joyceaner, Herzstück der Verehrung sind die täglichen Joyce-Lesungen. An diesem Tag sind junge Leute aus Malaysia in die Apotheke gekommen, aber viel zu schüchtern, um selbst vorzulesen. Ein junger Mann aus Deutschland, der im Trinity College studiert, übernimmt die Aufgabe und schlägt eine voluminöse deutsche "Ulysses"-Ausgabe auf. Es geht nicht um professionelles Vorlesen, sondern um den Spaß am Fabulieren. Jede und jeder stolpert mal über das eine oder andere unbekannte Wort. Gelacht wird viel – vor allem bei Wörtern auf Gälisch, wo niemand aus dem Ausland weiß, wie man sie korrekt ausspricht. Jeder liest abwechselnd eine Seite. Das ist das Geheimnis der Lesungen: Hier versammeln sich Menschen aus der ganzen Welt. Alle würden diese Atmosphäre schätzen, schwärmt Murphy, der selbst mehrere Sprachen spricht und "Ulysses" nach eigenem Bekunden schon 74-mal zur Gänze gelesen hat.

Besonders betriebsam wird es immer am Bloomsday. Dann treffen sich alljährlich Joyce-Enthusiasten, um bei Sweny die berühmte Seife zu kaufen, die man sogar online bestellen kann. Neben der Zitronenseife ein Must am Bloomsday: den Tag wie Bloom zu beginnen mit seiner Leibspeise – Insekten und gegrillte Hammelnieren. Zum Glück haben die Organisatoren 2022 an alle gedacht: Für Vegetarier gibt es ein fleischloses Frühstück zum Guinness. (Michael Marek, Saskia Guntermann, 27.9.2022)