Ältere und Menschen aus Risikogruppen können laut Fachleuten unabhängig von Infektionen impfen, bei allen anderen ist die Lage komplexer.

Foto: IMAGO/Friedrich Stark

Die Empfehlung des vierten Stichs für alle ab zwölf Jahren vonseiten des Nationalen Impfgremiums (NIG) kam für viele überraschend – auch für Fachleute. Warum genau jetzt?, fragten sich viele.

Herwig Kollaritsch, Infektiologe und Mitglied des NIG, verweist auf Nachfrage des STANDARD auf die Tatsache, dass die dritte Impfung bei der jüngeren Bevölkerung schon sehr lange – im Schnitt etwa neun Monate – her sei. Zudem seien sowohl die bisherigen als auch die neu angepassten Impfstoffe, die ab Mitte September verimpft werden sollen, von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) ab zwölf Jahren zum vierten Stich zugelassen. Er betont aber auch: "Um schwere Verläufe zu verhindern, würde es bei jungen Leuten nicht unbedingt die vierte Impfung brauchen."

Ganz besonders eine Stelle in den aktuellen Empfehlungen des NIG sorgte allerdings für differenzierte Reaktionen bei Expertinnen und Experten. "Die hier vorgesehenen Impfschemata können auch bei Personen angewendet werden, die bereits eine oder mehrere Infektionen mit Sars-CoV-2 durchgemacht haben", schreiben die Fachleute des NIG.

NIG-Empfehlung als Rahmen für individuelle Entscheidung

"Man kann – ungeachtet einer Infektion – impfen, da entsteht kein Schaden. Aber man kann auch warten", sagt Kollaritsch und betont in dem Zusammenhang, wie unterschiedlich sich eine Infektion auf den Immunschutz auswirken kann. Wenn jemand bei einer Corona-Erkrankung zwei Tage lang einen Schnupfen hat, würde das Immunsystem anders reagieren als bei jemandem, der eine Woche lang krank im Bett liegt. Ähnlich unterschiedlich wirke sich auch der Zeitpunkt von Impfungen und Infektionen aus: "Bei jemandem, der zwei Wochen nach der dritten Impfung an Corona erkrankt ist, ist der Effekt auf das Immunsystem ein anderer als bei jemandem, der sich sechs Monate nach dem Drittstich infiziert."

Oder anders ausgedrückt: Die Impf- und Infektionsgeschichte ist individuell. Es wird auch für Fachleute immer schwieriger einzuschätzen, welcher Impfstoff bei wem wann wie gut wirkt. Wer aktuell wie gut geschützt ist, ist so unterschiedlich, dass es nahezu unmöglich ist, jede einzelne Konstellation mit einer Empfehlung abzudecken. Deshalb wird die Frage, wann der beste Zeitpunkt für den vierten Stich ist, vor allem für jene, die in den vergangenen Monaten infiziert waren, zur persönlichen Abwägungssache.

Lehrerinnen und Lehrer, die sich zum Schulstart die vierte Impfung holen wollen, sollen das auch zwei Monate nach einer Infektion tun können, wenn sie das wollen, sagt Infektiologe und NIG-Mitglied Kollaritsch: "Wir wollten mit der Empfehlung den Menschen die Möglichkeit geben, sich den Zeitpunkt der vierten Impfung individuell zu überlegen." Man könne nicht genau beurteilen, welche Rolle vorhergegangene Infektionen dabei genau spielen: "Sie sind ein unklarer Faktor."

Impfung zu knapp nach Infektion nicht empfehlenswert

Das sorgte auch unter Fachleuten für Verwirrung. Es sei schließlich gut belegt, dass hybride Immunität, also drei Impfdosen plus Infektion, den besten Schutz bietet, schreibt etwa Molekularbiologe Martin Moder auf Twitter. Er bezieht sich dabei zwar auf Daten zu BA.2, zu den aktuell dominierenden Varianten BA.4 und BA.5 gebe es noch zu wenige Daten, aber nichtsdestotrotz: "Natürlich ist es kein Fehler, den Schutz weiter zu verbessern, aber weshalb Infektion und Booster nicht gleichgestellt sind, leuchtet mir nicht ein", schreibt Moder weiter.

Aber auch die Frage, ob eine vierte Impfung bei allen Personengruppen wirklich den Schutz weiter verbessert, ist in Fachkreisen unklar. Für Ältere und Menschen aus Risikogruppen, bei denen die Impfung nicht so gut wirkt, ist es sinnvoll, sich nahezu unabhängig von Infektionen ein viertes Mal zu impfen, sind sich Fachleute im Gespräch mit dem STANDARD einig. Bei über 60-Jährigen und Menschen mit Risikofaktoren hält der Schutz vor schwerer Erkrankung nämlich nur relativ kurz an.

Für alle anderen, die durch drei Impfungen eine gute T-Zell-Antwort und damit einen guten Schutz vor schweren Verläufen aufgebaut haben, ist die Sache differenzierter. Wer in den vergangenen Monaten Corona hatte, hatte mit großer Wahrscheinlichkeit die BA.5-Variante. Eine Impfung zu knapp nach einer ebensolchen Infektion könnte keine Wirkung zeigen oder den Schutz vor dem Virus sogar eher verschlechtern als verbessern, zeigt ein auf medRxiv veröffentlichter Preprint.

Das liegt daran, dass die Antikörper nach einer Virusexposition – also nach einer Impfung oder Infektion – noch ein paar Monate nachreifen und sich in dieser Zeit verbessern. Durch eine Impfung könnte dieser Reifeprozess der Antikörper gestoppt werden, wie der Preprint einer Studie zeigt.

Über einen Zeitraum von zwei Monaten wurden 66 Personen mit unterschiedlicher Infektionsgeschichte und ihre Reaktion auf eine dritte Impfung untersucht. Das Ergebnis: "Die B-Zellen-Antwort (das sind die sogenannten Gedächtniszellen, Anm.) auf Auffrischungsimpfungen wird durch eine kürzlich erfolgte Infektion behindert", schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie. Die Zahl der Probandinnen und Probanden ist sehr klein, und es wurde die Wirkung einer dritten Impfung untersucht, aber wahrscheinlich könnte man die Ergebnisse auch auf die vierte Impfung umlegen, glauben Expertinnen und Experten.

Besserer Schutz vor Ansteckung nach Infektion

Und auch der Schutz vor einer Ansteckung ist nach einer Infektion deutlich besser als erwartet, wie sich durch immer mehr Studien zeigt. Hybride Immunität, die durch Impfungen und frühere Infektionen, insbesondere mit früheren Omikron-Subvarianten, erworben wurde, verringert das Risiko von Reinfektion mit BA.5 deutlich, so etwa das Fazit einer im "New England Journal of Medicine" publizierten Studie.

Viele Fachleute empfehlen daher, nach einer Infektion mindestens ein paar Monate zu warten, bevor man sich den vierten Stich holt. "Ich würde eine Durchbruchinfektion wie eine Booster-Impfung zählen", schreibt etwa Leif Erik Sander, Klinikdirektor Infektiologie der Charité Berlin, auf Twitter. Laut NIG könne man zwar bereits direkt nach Vorliegen eines negativen PCR-Tests ein viertes Mal impfen, wenn es das Impfschema zeitlich so vorsieht, die Impfung könne aber auch maximal vier bis sechs Monate aufgeschoben werden. Am Ende bleibt es eine individuelle Abwägungssache. (Magdalena Pötsch, 7.9.2022)