Liz Truss möchte als neue britische Premierministerin Großes vollbringen. Man wird sehen.

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Liz Truss wird also tatsächlich neue britische Premierministerin. In der Urwahl durch die Mitglieder der konservativen Partei lag die 47-jährige Außenministerin deutlich vor ihrem Rivalen Rishi Sunak – allerdings fiel der Sieg über den früheren Finanzminister weniger klar aus als vorhergesagt.

Vor Parteiaktivisten und Parlamentsabgeordneten beteuerte die neue Tory-Parteichefin am Montag in London die Kontinuität, für die sie stehe. Ihre Regierung werde das Wahlprogramm ihres Vorgängers Boris Johnson umsetzen: "Ich will liefern, was wir den Wählern versprochen haben." Nach einer Audienz bei Königin Elizabeth soll die Amtsübergabe der Regierungsgeschäfte am Dienstag erfolgen.

Die Demoskopen hatten Truss seit Wochen einen Erdrutschsieg versprochen. Das Ergebnis von 57 zu 43 Prozent bei einer Beteiligung von 82,6 Prozent blieb nicht nur dahinter zurück; die neue Parteichefin verfügt auch über weniger Rückhalt in Fraktion und Partei als ihr Vorgänger. Kritiker des Verfahrens wiesen zudem darauf hin, dass lediglich 0,3 Prozent der britischen Wahlberechtigten, nämlich 172.000 Tory-Parteimitglieder, an der Entscheidung beteiligt waren.

Eher unterkühlt

Bei der kurzen Veranstaltung versuchten die Konservativen Einigkeit zu demonstrieren. Allerdings blieb die Stimmung in der Halle unterkühlt, was nicht zuletzt an Truss’ fehlendem rhetorischem Talent lag. Begeisterung herrschte stets nur dann, wenn die Rede auf den gescheiterten Premier Johnson kam. Dieser werde – lobte die Nachfolgerin mit Blick auf die klare Unterstützung Großbritanniens für die Ukraine – "bewundert von Kiew bis Carlisle". Die Erwähnung der englisch-schottischen Grenzstadt stürzte die Delegierten kurzzeitig so in Verwirrung, dass der von Truss erwartete Applaus ausblieb.

Die neue Chefin lobte zwar "die Breite und Tiefe von Talent" in ihrer Partei, unterließ aber jegliche Versöhnungsgeste an ihren unterlegenen Rivalen. Als das Ergebnis bekanntgegeben wurde, stürmte sie an Sunak vorbei auf die Bühne, ohne dessen protokollarisch übliche Glückwünsche entgegenzunehmen.

Sie habe "den Wahlkampf als Konservative bestritten", sagte Truss – ein Seitenhieb auf den Ex-Finanzminister, dessen umfangreiche, wirtschaftlich zwingend notwendige Staatshilfen von Truss’ Weggefährten als "Sozialismus" denunziert worden waren.

Schwächelnde Finanzmärkte

Neunmal binnen vier Minuten verwendete die Neue das Wort "deliver" – liefern: Nicht nur werde sie noch diese Woche eine Regierungsstrategie für die Energiekrise vorlegen, sondern auch Steuersenkungen vorantreiben, um damit Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Liefern müsse ihre Regierung auch Hilfen für das massiv strapazierte Gesundheitssystem NHS.

Die wirtschafts- und finanzpolitischen Ideen der Kandidaten standen im Mittelpunkt des Wahlkampfes. Sunak lehnte Steuersenkungen als unverantwortlich ab; zuerst gelte es, die galoppierende Inflation – erwartet werden im Winter bis zu 22 Prozent – unter Kontrolle zu bekommen. Wie schwierig die Lage werden könnte, haben die Finanzmärkte der de facto seit August feststehenden neuen Regierungschefin zuletzt verdeutlicht: Der Aktienindex FTSE fiel in den vergangenen drei Wochen um 4,2 Prozent, das Pfund sackte am Montag gegenüber Dollar und Euro ab.

Zu den ersten Gratulanten für die designierte Regierungschefin zählten der deutsche Kanzler Olaf Scholz sowie die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon, wenn die Nationalistin auch deutlich auf "politische Differenzen" hinwies.

Zwei Premiers im Nacken

Da Boris Johnson im Unterhaus verbleiben will, sieht sich Truss mit der ungewöhnlichen Situation konfrontiert, zwei Ex-Premiers auf den Hinterbänken hinter sich zu wissen: Sowohl der Noch-Amtsinhaber wie dessen Vorgängerin Theresa May sicherten der Neuen ihre Unterstützung zu. "Sie hat den richtigen Plan", lobte Johnson demonstrativ. Auch Innenministerin Priti Patel wird demnächst auf den Hinterbänken zu finden sein. Sie kündigte am Montagabend ihren Rücktritt an, sobald eine Nachfolgerin ernannt sei.

Labour-Oppositionsführer Keir Starmer machte Truss verantwortlich für mehr als zwölf Jahre konservativer Regierungspolitik und beschuldigte sie, ihre Vorstellungen stünden "nicht im Einklang" mit den Problemen der Bevölkerung. Statt von Steuersenkungen zu reden, solle die Regierung lieber die Energiepreise einfrieren. Deren bevorstehende Erhöhung für Privathaushalte um bis zu 300, für Geschäfte um bis zu 1000 Prozent dominieren seit Wochen die politische Debatte auf der Insel. (Sebastian Borger aus London, 5.9.2022)