Ohne Lösung der Energiekrise drohe Europa ein wirtschaftliches Debakel, warnt ein Börsenprofi. Künftig könnten die Preissprünge bei Energie sogar noch größer ausfallen.

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Russland dreht den Gashahn zu. Durch die Nordseepipeline Nord Stream 1 fließt wegen eines angeblichen Gebrechens bis auf weiteres kein Erdgas mehr nach Deutschland. Das bestätigte Gazprom am Montagabend und begründete dies mit einem angeblichen Konstruktionsfehler der eingesetzten Siemens-Turbine.

Der heimische Energiekonzern OMV gab am Montag an, nun nur noch 30 Prozent der ursprünglichen Gasmengen am Knoten Baumgarten zu erhalten, das sind um etwa zehn Prozentpunkte weniger als vor der Sperre von Nord Stream 1. Am niederländischen Handelsplatz TTF schoss der Gaspreis auf zeitweise mehr als 280 Euro pro Megawattstunde in die Höhe, das sind etwa 35 Prozent mehr als am Freitag. Den eigentlichen Grund des Lieferstopps ließ der Kreml nur indirekt verlautbaren: Man werde die Belieferung über Nord Stream 1 erst wieder aufnehmen, wenn der "kollektive Westen" die Sanktionen gegen Russland aufhebe.

Die Schockwellen erfassten die europäischen Aktienmärkte, auch der Euro geriet zunächst stark unter Druck. Er rutsche erstmals seit 20 Jahren wieder unter die Marke von 0,99 US-Dollar, bevor sich die Gemeinschaftswährung wieder stabilisieren konnte. Börsenprofis rätseln nun, ob sich die Turbulenzen bei der Energieversorgung auf die Zinsentscheidung der Europäischen Zentralbank am Donnerstag auswirken könnten. Zuletzt galt wegen der überbordenden Inflation im Euroraum, die im August den Rekordwert von 9,1 Prozent erreichte, eine Anhebung um einen Dreiviertelprozentpunkt als wahrscheinlich.

Lehman-artige Krise

"Die Angst vor einer Lehman-artigen Krise im europäischen Energiesektor wächst", sagte Analyst Jochen Stanzl vom Online-Broker CMC Markets unter Anspielung auf die Pleite der US-Investmentbank, die 2008 die Weltfinanzkrise ausgelöst hatte. Eine rasche Lösung der Energiekrise sei nicht in Sicht, warnt auch Naeem Aslam, Chefanalyst des Brokerhauses AvaTrade. Europa drohe ein wirtschaftliches Desaster. Angesichts dieser Befürchtungen rasselten Börsen in den Keller, europäische Aktien stießen zu Wochenbeginn nur zu deutlich tieferen Kursen auf Kaufwillige.

Die Verluste zogen sich quer durch fast alle Branchen, wobei der Autosektor am schwersten unter die Räder geriet. Die wenigen Gewinner waren im Rohstoffsektor zu suchen, vor allem Ölkonzerne profitierten von einem deutlichen Anstieg des Ölpreises: Ein Fass der Nordseesorte Brent kostete am Montag wieder deutlich mehr als 96 Dollar. Nach den Preisrückgängen der vergangenen Wochen drehen die großen Exportländer den Ölhahn offenbar etwas zu. Die Opec+, der aber auch Russland angehört, werde ihre Förderquoten ab Oktober um 100.000 Barrel pro Tag reduzieren, ließ das Förderkartell erdölexportierender Länder verlautbaren.

Skeptischer werden Stromversorger an der Börse beurteilt. Hier sorgen die bereits bestehenden oder angekündigten Strompreisbremsen oder Übergewinnsteuern in etlichen europäischen Ländern für die Erwartung nachlassender Erträge. In Wien setzte der Verbund seine Talfahrt fort und lag am Montag um etwa ein Viertel unter dem Rekordhoch von Ende August.

Anstieg des Strompreises

Damit hat sich die Kursentwicklung vom Strompreis entkoppelt, denn die Großhandelspreise für elektrische Energie klettern laut Österreichischer Energieagentur weiter. Dem heimischen Strompreisindex Öspi zufolge, in dem die Daten der Terminmärkte einfließen, wird Strom im Oktober um etwa 28 Prozent mehr als im September kosten und damit um fast 320 Prozent über dem Vorjahresmonat liegen.

Ob diese Entwicklung neuerliche Nachschusspflichten bei den Termingeschäften von Wien Energie auslöst? Diesbezüglich lässt sich der nicht börsennotierte Versorger auf Nachfrage nicht ins Blatt schauen: Die Marktpreisentwicklung bei Strom und Gas sei weiterhin angespannt. Die Marktlage werde laufend beobachtet, analysiert und evaluiert. "Wir bereiten uns auf alle Szenarien vor", sagte ein Unternehmenssprecher.

CMC-Experte Stanzl befürchtet noch größere Turbulenzen an den Energiemärkten – nämlich dann, wenn Marktteilnehmer die durch Preisanstiege fällige nachträgliche Sicherheitsleistungen an die Börse nicht zahlen können, wie es bei Wien Energie ohne Geldspritzen von Stadt und Bund wohl eingetreten wäre. "Das könnte zu unkontrollierten und von den tatsächlichen Verhältnissen zwischen Gasangebot und -nachfrage losgelösten Preissteigerungen führen", erklärt Stanzl. (Alexander Hahn, 5.9.2022)