Jill Bidens Ehemann spricht vor Anhängerinnen und Anhängern in Wisconsin.

Foto: IMAGO/ALEX WROBLEWSKI

Der Witz ist nicht ganz taufrisch. "Hallo", ruft der Mann im blauen Sakko mit offenem Hemdkragen von der Bühne in Milwaukee ins Publikum. "Ich bin Joe Biden, der Mann von Jill Biden."

Für einen amerikanischen Präsidenten ist das eine seltsame Vorstellung. Viel eher passt sie zu einem Kandidaten. Genau so hat Biden den Gag im Vorwahlkampf der Demokraten für das Rennen ums Weiße Haus 2020 ursprünglich auch eingesetzt. Nun lenkt er seit anderthalb Jahren die Geschicke des Landes. Doch plötzlich muss der 79-Jährige wieder um Stimmen werben: Bei den Kongresswahlen im November entscheidet sich, ob seine parlamentarische Mehrheit endgültig verdampft. Zugleich sind sie eine Art Generalprobe für den Showdown 2024, wenn Ex-Präsident Donald Trump erneut nach der Macht greifen könnte.

Ernste Warnung

Eine halbe Stunde dauert der Auftritt Bidens beim "Laborfest" in Wisconsin, den der Präsident passend zum amerikanischen Tag der Arbeit mit einem kraftvollen Bekenntnis zu den Gewerkschaften beginnt, dann aber mit einer eindringlichen Warnung beendet. "Unsere Demokratie steht auf dem Spiel", mahnt er in ernstem Ton. "Wir müssen entschlossener sein, sie zu verteidigen, als die, die sie zerstören wollen."

Schon bei seiner Rede vor der Liberty Hall in Philadelphia vor einer Woche hatte Biden seinen Vorgänger Trump und dessen extremistische Anhänger wegen ihrer Verschwörungslügen über eine angebliche Wahlfälschung und der Akzeptanz von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung scharf angegriffen. Bei einem Blitztrip durchs halbe Land von Washington nach Wisconsin und später Pennsylvania am Montag wird klar, wie stark die mögliche Rückkehr von Trump den politischen Meinungsstreit der kommenden Wochen dominieren dürfte.

Elefant im Raum

Lange hatte es Biden, der als Versöhner das tief gespaltene Land wieder zusammenbringen wollte, vermieden, seinen Vorgänger direkt anzugreifen. Auch viele demokratische Wahlkämpfer wollten lieber über politische Inhalte als über den Möchtegern-Autokraten reden. Doch die rasante Radikalisierung der Republikaner, die bei den Midterms fast überall mit Trump-treuen Kandidaten antreten, die Blockade der Partei im Parlament und die Enthüllungen des Untersuchungsausschusses zum Kapitolsturm machen es praktisch unmöglich, den Elefanten im Raum zu ignorieren.

"Das Land steht an einer Weggabelung, wie es sie alle sechs oder acht Generationen gibt", leitet Biden seinen Vortrag ein. Die politischen Alternativen skizziert er in grellen Farben. Es gehe darum, ob sich die USA vorwärts oder rückwärts entwickeln. "Hoffnung" und "Optimismus" stellt er "Hass" und "Spaltung" gegenüber, die von dem dominierenden Trump-Flügel der Republikaner verbreitet würden. Ausdrücklich wirbt der Präsident um moderate Republikaner und unabhängige Wähler, denen er selbstbewusst seine Bilanz vom Infrastrukturgesetz über das Klima- und Sozialpaket samt der darin enthaltenen Begrenzung der Arzneikosten bis zum Teilerlass der Studienschulden präsentiert. "Die USA müssen wieder auf die Füße kommen und so sein, wie sie waren", beschwört er später in Pennsylvania die guten patriotischen und anständigen Geister.

Die Ausgangslage bei den Midterms ist nicht einfach. Traditionell nutzen die Amerikaner diese Zwischenwahlen, um ihrem Ärger über die regierende Partei Luft zu machen. Außerdem verabschieden sich dieses Mal besonders viele demokratische Abgeordnete in umkämpften Bezirken in den Ruhestand, was die Chancen der republikanischen Herausforderer erhöht. Noch im Juli, als Bidens Umfragewerte von einen Negativrekord zum nächsten stürzten, galt es als sicher, dass der Präsident seine Parlamentsmehrheit krachend verlieren wird.

Aufschwung

Doch plötzlich gibt es ein Momentum. Während die Demokraten von den gesetzgeberischen Erfolgen der Regierung profitieren, scheinen die rigiden Abtreibungsverbote in rechten Bundesstaaten zwar der Kernanhängerschaft der Republikaner zu gefallen, zugleich aber moderatere Wähler abzuschrecken. Binnen eines Monats sind die Beliebtheitswerte von Biden um fünf Punkte auf 42 Prozent gestiegen.

Offenbar wird der Präsident von den demokratischen Wahlkämpfern draußen im Land inzwischen eher als Unterstützer denn als Ballast empfunden: Als er Anfang Juli nach Ohio reiste, um den dortigen demokratischen Senatskandidaten zu unterstützen, blieb dieser der Veranstaltung vorsichtshalber fern. Am Montag in Pennsylvania kündigt der dortige Senatskandidat John Fetterman den Gast aus Washington persönlich an. Zwar gilt es weiterhin als wahrscheinlich, dass die Demokraten in zwei Monaten ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus knapp verlieren werden, im wichtigeren Senat aber scheint eine Verteidigung des Status quo denkbar.

Vor diesem Hintergrund scheint auch die Debatte über das Alter von Biden und seine Eignung für eine weitere Kandidatur verstummt – zumindest bis auf weiteres. Demonstrativ dynamisch tigert der 79-Jährige in Wisconsin über die Bühne und geht für Selfies mit seinen Anhängern scheinbar mühelos in die Hocke. Drei Stunden später in Pennsylvania wirkt er bei schwülen Temperaturen freilich nicht mehr ganz so frisch. Nach nur 21 Minuten beendet er seinen Vortrag. Er wolle sich kurzhalten, damit die Zuschauer nicht so lange stehen müssen, sagt Biden zur Begründung. Ganz ungelegen scheint ihm selbst die Atempause nicht zu kommen. (Karl Doemens aus Washington, 6.9.2022)