IAEA-Chef Rafael Grossi machte sich jüngst vor Ort selbst ein Bild von den Schäden – nun folgt der Bericht.

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Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) spricht sich nun doch für eine entmilitarisierte Zone um das russisch besetzte Kernkraftwerk Saporischschja in der Südukraine aus. Das geht aus einem Bericht der in Wien ansässigen Agentur hervor, der am Dienstagnachmittag veröffentlicht wurde und die Erkenntnisse des Besuchs der IAEA-Inspekteure in Europas größtem AKW vergangene Woche zusammenfasst.

Demnach seien dringend vorübergehende Maßnahmen nötig, um einen nuklearen Unfall infolge von physischen Kriegsschäden zu verhindern. Eine "nukleare Sicherheitszone" sei darauf die beste Antwort, heißt es in dem Bericht. Die IAEA stehe bereit, entsprechende Verhandlungen einzuleiten.

Die Inspekteure, die vergangene Woche in Begleitung von IAEA-Chef Rafael Grossi das Areal unter die Lupe genommen haben, hätten mehrere Schäden auf dem Gelände identifiziert: etwa in der Nähe der sechs Reaktoren, an einer Lagerstätte für nukleare Abfälle und für Sprit, an den externen Stromleitungen, Kommunikationskabeln und an der zentralen Notalarmstation. Dabei seien möglicherweise auch Strahlungsdetektoren beschädigt worden. Einige Schäden seien bereits repariert worden, doch weitere Reparaturen seien notwendig.

Störung der Befehlskette möglich

Zudem seien laut dem Bericht auch russische Truppen und Militärfahrzeuge in der Nähe der Reaktoren gesichtet worden sowie auch eine Expertenmission des russischen Staatskonzerns Rosenergoatom. "Die IAEA ist der Ansicht, dass die Anwesenheit von leitendem technischem Personal von Rosatom die Befehlskette stören könnte und es so zu Problemen bei wichtigen Entscheidungen kommen könnte," heißt es dazu.

Weiterer Grund zur Sorge sei die Lage der wenigen ukrainischen Arbeiter, die unter Stress und Hochdruck den Betrieb des Kraftwerks gewährleisten, so der IAEA-Bericht. Das sei unhaltbar, da dadurch die Wahrscheinlichkeit für "menschliches Versagen mit Konsequenzen für die nukleare Sicherheit" erhöht werde. Anfang August sei ein Mitarbeiter bei Beschuss des AKWs gar verletzt worden. Weiters kritisiert die IAEA, dass der Zugang des ukrainischen Personals durch die russischen Besatzer eingeschränkt werde. So liege es am russischen Militär, den Mitarbeitern Zutritt zu Kühlanlagen zu gewähren.

Besuchsmission

Grossi hatte kurz nach seiner Rückkehr aus der Ukraine am Freitag von einem Unterschied wie zwischen Tag und Nacht durch die Besuchsmission gesprochen. Gemeint war die Präsenz zweier Atomfachleute in Saporischschja, die vor Ort geblieben seien. Man sei künftig nicht mehr darauf angewiesen, sich auf die Aussagen der Kriegsparteien zu verlassen, sondern könne vielmehr den unabhängigen Expertinnen und Experten vor Ort vertrauen.

Doch bei der Frage, von welcher Seite denn der anhaltende Beschuss auf das größte Atomkraftwerk Europas und seine Umgebung stammt, war man auch am Dienstag noch auf die einseitigen Aussagen aus Moskau und Kiew angewiesen. Beide Seiten werfen nach wie vor der anderen Seite vor, die Sicherheit der Reaktoren und der Menschen am Gelände zu gefährden.

UN-Sicherheitsrat

Den Bericht, der gewissermaßen eine Kehrtwende darstellt, wird Grossi auch dem UN-Sicherheitsrat in New York vorlegen. Schließlich hatte Grossi zuvor davon abgesehen, eine entmilitarisierte Zone zu fordern – mit dem Argument, man dürfe die unabhängige Position der UN-Einrichtung nicht gefährden.

Bereits vor der Veröffentlichung des Berichts hatte Grossi aber seine Sorge um die "physische Unversehrtheit" des Kraftwerks geäußert. Bei seinem Besuch habe er "nicht nur einmal, sondern mehrfach" Einschusslöcher gesehen.

Notausschaltung am Montag

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Montag vor einer "Strahlungskatastrophe" nach angeblichem russischem Beschuss gewarnt. Davor hatte die IAEA – basierend auf ukrainischen Angaben – berichtet, dass der letzte verbleibende Reaktor abgeschaltet wurde, damit ein Brand auf dem Gelände gelöscht werden konnte. Die Versorgungsleitung selbst sei nicht beschädigt worden, und der Reaktor sollte nach dem Löscheinsatz wieder ans Netz gehen, zudem liefere er weiterhin genug Energie für die Kühlsysteme und Stromversorgung des AKWs selbst.

Auch am Dienstag war es erneut zu einem Stromausfall in der nahegelegenen Stadt Enerhodar gekommen, wie die Besatzungsbehörden und der geflohene Bürgermeister auf Telegram bestätigen. Mehrere Einschläge rund um das AKW sollen die Versorgung unterbrochen haben. Russland hat immer wieder zu bedenken gegeben, dass man wohl nicht die eigenen Truppen – die das Kraftwerk besetzen – gefährden würde. Hingegen soll die ukrainische Armee für die Bombardierung verantwortlich sein. (Bianca Blei, Flora Mory, 6.9.2022)