Eine künstlerische Rekonstruktion des Menschen, der vor mehr als 31.000 Jahren eine Fußamputation überlebte.
Bild: Jose Garcia (Garciartist) / Griffith University

Menschen, die vor etwa 40.000 Jahren lebten, waren uns sehr ähnlich: Allen Indizien zufolge waren sie künstlerisch tätig, musizierten auf Flöten und anderen Musikinstrumenten und hatten bestimmte Glaubensvorstellungen. Um ihre Ideen und Erfahrungen zu teilen, war eine elaborierte Sprache nötig. Ein Schüleraustausch per Zeitmaschine würde uns also einer gar nicht so fremden Lebensweise näherbringen (der Mangel an physikalischen Möglichkeiten zur Durchführung einer Zeitreise erspart uns und unseren Vorfahren allerdings diesen Kulturschock).

Zu welchen Meisterleistungen man schon in der Steinzeit fähig war, zeigt sich auf der Insel Borneo, die heute größtenteils zu Indonesien gehört. Versteckt in den tropischen Wäldern befindet sich hier die kathedralengroße Liang-Tebo-Höhle, wo ein Forschungsteam vor wenigen Jahren auf teilweise 40.000 Jahre alte Tierdarstellungen und Handumrisse stieß.

Im Osten Borneos befindet sich die Liang-Tebo-Höhle, in der Anzeichen auf die älteste Amputation entdeckt wurden.

Nun gelang dem australischen Archäologen Maxime Aubert und seinem indonesisch-südafrikanisch-australischen Team erneut eine faszinierende Entdeckung: Sie spürten das Skelett eines jungen Menschen auf, der offenbar eine Beinamputation hinter sich hatte – und diesen radikalen medizinischen Eingriff noch jahrelang überlebte. Wie die Expertinnen und Experten in einer aktuellen Studie im Fachjournal "Nature" schreiben, handelt es sich dabei um die bisher älteste Amputation, durchgeführt vor mehr als 31.000 Jahren.

Rekord gebrochen

Damit ist der bisherige Rekord locker überboten: Fachleute werteten zumeist die Unterarmamputation eines französischen Bauern vor etwa 7.000 Jahren als ältesten derartigen Eingriff, der gut verlief; immerhin konnte die Wunde teilweise verheilen. Der junge Mensch von Borneo – Aubert und sein Team konnten anhand der Knochen das biologische Geschlecht nicht eindeutig bestimmen – gehörte im Gegensatz dazu zu einer Jäger-Sammler-Gemeinschaft. Er dürfte erst zehn bis 14 Jahre alt gewesen sein, als ihm der linke Fuß und ein Teil des Unterschenkels chirurgisch entfernt wurden.

Das Beinskelett und die Amputationsstelle.
Abbildung: nach T. Maloney et al., Nature, 2022

Sesshaftigkeit und Landwirtschaft entwickelten sich erst vor rund 10.000 Jahren und machten es generell einfacher, schwer verletzte Mitmenschen zu pflegen. Daher gehen Fachleute davon aus, dass sich in dieser Zeit auch medizinische Eingriffe verbesserten – und das mussten sie auch. Denn in den ersten Städten lebten Menschen enger als je zuvor beisammen, was beispielsweise Infektionskrankheiten begünstigte und für Konfliktpotenzial sorgte.

Kein Unfall

Das Beispiel aus Borneo zeigt allerdings eindrücklich, dass schon viel früher komplexe chirurgische Eingriffe gelingen konnten, schreibt die Archäologin Charlotte Ann Roberts von der Universität Durham in Großbritannien in einem begleitenden Artikel, der den Fund einordnet. Mikroskopische Analysen zeigen, dass der Schnitt gut verheilen konnte. Einen Unfall oder einen tierischen Angriff schließt das Forschungsteam aus, da hierbei für gewöhnlich unregelmäßige Brüche entstehen.

Nicht nur in europäischen Höhlen, sondern auch auf Borneo findet sich Handabdruckkunst, die vor zehntausenden Jahren geschaffen wurde.
Foto: APA/DPA/KINEZ RIZA

Die junge Person lebte nach der Operation noch sechs bis neun Jahre weiter, schätzt das Team anhand der Knochen. Sie verstarb demnach im Alter von etwa 19 oder 20 Jahren und wurde in der Höhle mit den Wandmalereien bestattet. Abbildungen von Händen finden sich von Borneo bis nach Spanien und Frankreich – und manchmal fehlen dabei Fingerglieder. Dies veranlasste Fachleute zu Mutmaßungen, dass damals auch schon Finger amputiert wurden. Es gibt aber auch andere Erklärungsversuche. Die Menschen könnten sich etwa durch abgewinkelte Fingerglieder Handzeichen gegeben und diese für die Ewigkeit an der Wand festgehalten haben.

Keine Strafe

Warum die Gemeinschaft von Borneo sich überhaupt zu einer Amputation bei einem Kind entschloss, darüber lässt sich nur spekulieren. Womöglich war eine Wunde am Fuß der Grund dafür. Noch heute werden Gliedmaßen amputiert, wenn sie beispielsweise durch Unfälle oder Krankheiten wie Lepra, Tumoren und Erfrierungen irreparabel geschädigt sind.

Es ist auch nicht ganz auszuschließen, dass schon damals Körperteile als Strafe abgeschnitten wurden, wie es in späteren Epochen erwiesenermaßen der Fall war. Dies halten die Fachleute beim Skelett aus der Liang-Tebo-Höhle jedoch angesichts der gut verheilten Wunde und des langen Weiterlebens des jungen Menschen für unwahrscheinlich. Sie attestieren dem "Arzt" oder der "Ärztin" eine umfassende Kenntnis der Knochen, Muskeln und Blutgefäße sowie technisches Geschick. Über das verwendete Werkzeug ist nichts bekannt.

Mikroskopische Analysen weisen auf verheiltes Knochengewebe nach der Operation hin.
Abbildung: T. Maloney et al., Nature, 2022

Die Schmerzen, die das Kind während des Eingriffs erlitt, können die meisten Menschen heute nur noch erahnen – dank der modernen Narkosemöglichkeiten, die es damals noch nicht gab. Die reiche Pflanzenwelt Borneos könnte aber zumindest gewisse Möglichkeiten zur Betäubung geboten haben. Auch zum Stillen der Blutung benutzte man womöglich pflanzliche Materialien wie Torfmoos. Dies wird noch heute in manchen Gemeinschaften für medizinische Zwecke genutzt, schreibt Roberts. Und offenbar ist es gelungen, die Wunde bis zum Abheilen vor Infektionen zu schützen.

Offene Fragen

Eine ungewöhnliche Leistung, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ohne Antibiotika-Präparate einen ärztlichen Erfolg bedeutet hätte und in der Steinzeit geradezu an ein Wunder grenzt. "Dass dieses Kind die Prozedur überlebte und, wie die Schätzung zeigt, viele Jahre danach weiterlebte, ist erstaunlich", hält Roberts fest.

In den Jahren nach der Operation konnte die Person das linke Bein freilich nicht mehr wie zuvor verwenden. Davon zeugt auch die Rückbildung der Knochen, die auf wenig genutzte Muskulatur hindeutet. Theoretisch sei es der Archäologin zufolge aber möglich, dass das Kind eine Art Krücke nutzte, um sich besser fortbewegen zu können.

Auch eine Prothese sei prinzipiell denkbar – für solche Konstrukte gibt es allerdings erst aus späteren Zeiten, vor allem der Antike, erste dokumentierte Funde (einen sogar aus Österreich). Das Skelett aus Borneo bleibt trotz vieler offener Fragen ein rührendes Beispiel für Menschen, die sich umeinander kümmern – und für höchst beeindruckende medizinische Leistungen. (Julia Sica, 7.9.2022)