Präsident Boric muss sich nun Gedanken machen, wie er doch noch eine neue Verfassung in die Wege leiten kann.

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Frage: Wie ist die Ablehnung der neuen Verfassung durch die Volksabstimmung vom Sonntag politisch zu interpretieren?

Antwort: Die Chileninnen und Chilenen haben am Sonntag einem konkreten Verfassungsentwurf eine Absage erteilt. Dennoch bedeutet das nicht, dass sie die alte, noch aus der Diktatur von Augusto Pinochet stammende Verfassung gutheißen. Umfragen zufolge ist die überwältigende Mehrheit für eine neue Verfassung – aber identifizierte sich nicht mit dem vorgelegten Vorschlag. Meinungsforscher schließen nicht aus, dass dies letztlich auch eine Abstimmung über die Regierungsarbeit von Präsident Gabriel Boric war, der wegen der Inflation und steigender Kriminalität in die Kritik geraten war. Denn die 38 Prozent Zustimmung für die Verfassung entsprechen ziemlich genau seiner aktuellen Popularität.

Frage: Welche tieferen Gründe stecken hinter der Ablehnung?

Antwort: Die Wahlen zum Verfassungskonvent standen noch ganz unter dem Eindruck der Proteste im Jahr 2019, der Aufbruchsstimmung und des Überdrusses mit den herkömmlichen Parteien. Vor allem linke Aktivistinnen und Aktivisten zogen in den Konvent ein. Berufspolitikerinnen und -politiker sowie Konservative waren unterrepräsentiert. Mit Pandemie und Wirtschaftskrise wandelte sich aber die Stimmung im Land. Besitzstandswahrung wurde wichtiger als gesellschaftspolitische Experimente. Mit Skandalen und radikalen Vorschlägen – etwa nach einer kompletten Verstaatlichung der Bodenschätze – verschreckte der Verfassungskonvent außerdem die Wirtschaft und die Wählerinnen und Wähler der Mitte, die traditionell die Mehrheit stellen. In Umfragen begründeten rund die Hälfte der Kritikerinnen und Kritiker ihre Ablehnung mit der unbefriedigenden Arbeit des Konvents.

Die Konservativen wussten diesen Stimmungswandel geschickt zu nutzen mit einer Angst- und Fake-News-Kampagne. Gestreut wurden etwa Gerüchte, die Verfassung erlaube Enteignungen und die Abtreibung bis zum neunten Monat. Das Lager der Befürworterinnen und Befürworter war zerstritten und zu wenig in der Lage, der Kampagne ein positives Narrativ entgegenzusetzen. Umfragen zufolge kippte die Stimmung im März 2022. Von da an legte das Nein-Lager konstant zu – eine Tendenz, die sich bis zum Abstimmungstag verfestigte. Aber auch viele Politikerinnen und Politiker aus dem linken Lager lehnten die neue Verfassung ab. Präsident Boric versprach schon vor der Abstimmung, den Vorschlag zu reformieren. Das verstärkte den Eindruck, die neue Verfassung sei schlecht oder bestenfalls das kleinere Übel.

Frage: Welche Lehren sind daraus zu ziehen?

Antwort: In Lateinamerika herrscht der Irrglaube, gesellschaftliche Realitäten seien durch neue Verfassungen zu ändern. Weder hat die ecuadorianische Verfassung, die als erste der Natur Rechte einräumte, zu einem Rückgang von Bergbau- und Ölförderung geführt, noch hat die Ausweitung der Volksabstimmungen in Venezuela zu mehr Demokratie geführt – ganz im Gegenteil. In Chile hingegen machten der Umweltschutz und die Menschenrechte unter Boric auch ohne neue Verfassung Fortschritte. So wurde gerade erst ein Polizist rechtskräftig verurteilt, weil er 2019 einer Demonstrantin gezielt mit einer Tränengas-Kartusche ins Gesicht geschossen hatte, was zu ihrer Erblindung führte. Verfassungen sind ein gesellschaftlicher und politischer Minimalkonsens, nicht das Manifest einer Avantgarde und auch nicht eine bloße Auflistung von Einzelforderungen. Um ein gesellschaftliches Transformationsprojekt erfolgreich zu Ende zu bringen, bedarf es einer breiten Allianz politischer Parteien und gesellschaftlicher Gruppen. Es muss Vertrauen geschaffen werden. Polarisierung ist dem eher abträglich.

Frage: Wie hat Präsident Boric reagiert?

Antwort: Er war einer der Verfechter einer neuen Verfassung. Die Niederlage hat seine Position geschwächt und Risse in seiner heterogenen Koalition hinterlassen. Er hat in der Folge sein Kabinett umstrukturiert. Umstrittene Figuren, die ihm und dem progressiven Lager nahestanden, wurden ausgetauscht durch moderatere Berufspolitiker. Es fand also ein Ruck hin zur Mitte statt. Boric hat außerdem angekündigt, dass er zusammen mit der Zivilgesellschaft und dem Kongress Wege suchen wird, eine neue Verfassung zu erarbeiten. Auch Teile der politischen Rechten haben Bereitschaft zu einem Reformprozess signalisiert.

Frage: Welche Möglichkeiten zu einer neuen Verfassung bieten sich jetzt?

Antwort: Man könnte eine neue verfassungsgebende Versammlung einberufen. Das wäre eine basisdemokratische Entscheidung und die von Boric bevorzugte Lösung. Für die Einberufung und den Zuschnitt eines solchen Konvents bräuchte Boric die Mehrheit im sehr zersplitterten Kongress. Eine Alternative wäre die Einberufung eines Expertenkomitees, das einen neuen Entwurf erstellt, der dann vom Kongress verabschiedet und gegebenenfalls durch ein Plebiszit ratifiziert wird. Experten raten dazu, den Verfassungsprozess innerhalb eines Jahres abzuschließen. Egal welcher Weg beschritten wird, es dürfte ein moderaterer Entwurf dabei herauskommen, da die konservativen Altparteien durch das Plebiszit wieder Aufwind bekommen haben und eine wichtigere Rolle spielen dürften. (Sandra Weiss, 8.9.2022)