Gekrönter Boxer? Oft stellte Jean-Michel Basquiat schwarze Protagonisten in Siegerpose ins Zentrum, wie in "Untitled" von 1982.
Foto: Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, New York / Private Collection – courtesy of HomeArt, Hong Kong

Die Dreadlocks stehen in Büscheln vom Kopf ab und rahmen das blutjunge Gesicht auf dem Polaroidfoto. Die Krawatte steckt unordentlich im Hemdkragen, der Blick hingegen ist zielstrebig. Der Mann wusste ganz genau, wohin er wollte. Jean-Michel Basquiat legte eine kometenhafte Karriere hin, wurde in kürzester Zeit zu einem der angesagtesten New Yorker Kunststars der 1980er-Jahre, stellte mit nur 22 Jahren als jüngster Teilnehmer aller Zeiten auf der Documenta aus und stieg zum ersten schwarzen Künstler mit Weltruhm auf. Heute zählt Basquiat zu den wichtigsten Künstlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Grund genug, dass die Albertina ab Freitag die erste museale Retrospektive des Künstlers in Österreich zeigt. Diese eröffnet sie mit genanntem Polaroid und den wichtigsten Stationen seines Lebens. Lang war dieses bekanntermaßen nicht – mit nur 27 Jahren starb Basquiat 1988 an einer Überdosis, ein Jahr nach dem Tod seines Mentors und Freundes Andy Warhol. Anhand von rund 50 Werken – alles Leihgaben – und einem Film über den Ausnahmekünstler schlängelt sich die Schau durch das umfassende Œuvre: In nicht einmal einem Jahrzehnt schuf Basquiat fast 1000 Gemälde und über 2000 Zeichnungen. Erzählungen zufolge zeichnete er ununterbrochen, egal auf welchem Untergrund: Türen, Kleidung, Wände, Möbel.

Gefeierter Kunststar: Basquiat wurde nur 27 Jahre alt – er starb an einer Überdosis Heroin.
Foto: Andy Warhol / Galerie Bruno Bischofberger

Als Sohn eines Haitianers und einer Puerto Ricanerin wuchs Basquiat in Brooklyn auf. Nachdem der Schulabbrecher mit 17 Jahren von zu Hause ausgerissen war, lebte er auf der Straße und bei Freunden. Er verkaufte bemalte Postkarten und machte sich mit seinem Freund Al Diaz unter dem Pseudonym "SAMO©" – kurz für "same old shit" – in der Graffitiszene einen Namen: Ihre sozialkritischen Sprüche zierten in den 70ern die ganze Stadt. Von Beginn an waren bei Basquiat Zeichnung und Schrift zentral und dominieren sein gesamtes Werk.

Gemalte Lautgedichte

In einer Mischung aus Expressionismus, Pop-Art und Conceptual Art schuf der Künstler flächige Collagen aus unterschiedlichen Materialien und Farben, lagerte zig Schichten als Transformation seiner Umwelt übereinander. Alles, was ihn umgab, speiste er in sein reiches Repertoire an Symbolen ein – und erschuf so etwas, das mit allen damaligen Konventionen der Kunst brach. Mit diesem unverkennbaren Stil – beeinflusst durch Vorbilder wie Twombly, Picasso oder de Kooning – löste er Hierarchien auf und kombinierte alltägliche Motive aus Werbung, Popkultur oder Gesellschaftspolitik mit kulturgeschichtlichen, auch religiösen Symbolen, kindlichen Cartoons, Anatomie sowie Schrift – oft in derartigem Rhythmus, dass sie an gemalte Lautgedichte erinnern und Basquiats Leidenschaft für Musik, besonders Hip-Hop, offenlegen.

"Flesh and Spirit": Mit seinem unverkennbaren Stil löste Basquiat Hierarchien auf und kombinierte alltägliche Motive aus Werbung, Popkultur oder Gesellschaftspolitik mit kulturgeschichtlichen Symbolen, kindlichen Cartoons, Anatomie sowie Schrift.
Foto: Courtesy of Fredrik Nilsen. On loan from the Parker Foundation / Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, New York

Diese geballte Überlagerung vergleicht der Basquiat-Experte Dieter Buchhart, der die Schau gemeinsam mit Antonia Hoerschelmann kuratierte, als "Copy-and-Paste-Sampling der Internet- und Postinternetgeneration". Mit seiner Ästhetik habe der Künstler die Komplexität unserer heutigen Kommunikation vorweggenommen, so Buchhart.

Doch nicht nur auf dieser visuellen Ebene kann in Basquiats Werken eine brisante Aktualität erkannt werden. Zahlreiche seiner Bilder behandeln Themen wie Alltagsrassismus, Vorurteile und (Polizei-) Gewalt gegen Schwarze und stellt diese an den Pranger. So in Irony of a Negro Policeman von 1981 gleich zu Beginn der Ausstellung, auf dem – als offensichtlicher Widerspruch für den Künstler – ein grimmiger schwarzer Polizist zu sehen ist. Oder ein anderes Werk mit schießendem Cop und getroffenem Opfer im Comic-Stil, das Basquiat kurz nach der Ermordung seines afroamerikanischen Künstlerfreunds Michael Stewart geschaffen hatte. Sogar auf Deutsch steht dort: "Boom. Bang. Wo bin ich?"

Rekorde und Rassismus

In seinen Werken machte der Maler fast immer schwarze Menschen zu den Protagonisten, da er diese in anderen Gemälden kaum zu sehen bekommen hatte. Seine Vorbilder fand er nicht in der Malerei, sondern in Musik und Sport (Boxer!). Oft stellte er Figuren in dominanten Posen als triumphierende Helden ins Zentrum. Maskenhaften Gesichter, die auch an Totenschädel erinnern, setzte er eine Krone (sein Markenzeichen) auf. Den Vergleich als "schwarzer Picasso" empfand Basquiat zwar als "schmeichelhaft", aber zugleich als "erniedrigend".

"Untitled (Infantry)" von 1983 mit schießendem Cop und getroffenem Opfer im Comic-Stil schuf Basquiat kurz nach der Ermordung seines afroamerikanischen Künstlerfreunds Michael Stewart. Sogar auf Deutsch steht dort: "Boom. Bang. Wo bin ich?"
Foto: Nicola Erni Collection, Reto Pedrini Photography / Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, New York

Basquiat feierte zu Lebzeiten enorme Erfolge, wurde schnell von großen Galerien vertreten und konnte seine Bilder zu immer höheren Summen verkaufen. Weil diese am Kunstmarkt aber durch die Decke gingen, sind heute nur wenige große Museen im Besitz seiner Werke, sondern primär private Sammler, weil die Arbeiten schlichtweg zu teuer sind. 2017 wurde ein Gemälde um den Rekordwert von 110,5 Millionen Dollar versteigert.

Kaum vorstellbar, dass für diese Galionsfigur der "Black Art" in den 80er-Jahren kein Taxi in New York anhielt und Basquiat auch sonst heftigem Alltagsrassismus ausgesetzt war. Lange blieb er komplette Ausnahmefigur in der ansonst weißen Kunstszene. Erst in den vergangenen Jahren legte die Kunstwelt endlich einen Fokus auf das Schaffen schwarzer Künstler. Basquiats Beitrag ist unbestritten. (Katharina Rustler, 9.9.2022)