Im Gastblog sprechen Viktoria Pammer-Schindler und Mia Bangerl mit der Historikerin Gabriele Haug-Moritz über digitale Interaktion.

Gabriele Haug-Moritz ist Professorin für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) an der Karl-Franzens-Universität Graz. In ihrer Forschung als Historikerin interessiert sie sich unter anderem für gesellschaftliche Transformationsprozesse, die mit der technologischen Innovation des Drucks im Europa des 16. Jahrhunderts einhergingen. Sie beschäftigt sich zudem mit der digitalen Edition von Quellen.

Der Buchdruck mit beweglichen Lettern führte zu gesellschaftlichen Entwicklungen, deren Analyse auch für den gegenwärtigen Kontext aufschlussreich ist.
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Laut Gabriele Haug-Moritz lassen sich aktuelle Digitalisierungsprozesse – in einigen Aspekten – mit früheren Medienumbrüchen vergleichen. So habe der aufkommende Buchdruck um 1.500 menschliche Kommunikationsprozesse ähnlich weitreichend verändert, wie es der digitale Wandel der Gegenwart tue. In der Vergleichbarkeit dieser Grundkonstellation liege das Erkenntnispotenzial einer geschichtswissenschaftlichen Betrachtung aktueller Problemstellungen.

Buchdruck als Weg zu mehr Profit

Im Mittelalter wurden primär in den Skriptorien der Klöster handschriftliche Abschriften von verschiedenen Texten angefertigt, allen voran von theologischen, aber auch von literarischen wie etwa dem Nibelungenlied. Die mittelalterlichen Wissensspeicher wären jedoch nur der Elite zugänglich gewesen, so Haug-Moritz: dem Klerus, auch und gerade den an Universitäten Lehrenden, sowie einer verschwindend kleinen Schicht in den Städten.

Im 15. Jahrhundert sei dann der Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden worden, erstaunlicherweise nicht im sonst sehr fortschrittlichen Italien, sondern in Mainz am Rhein, erklärt die Historikerin. Diese technologische Innovation ermöglichte erstmals Massen- und Distanzkommunikation, das heißt man musste nicht, wie bislang, zur gleichen Zeit, am gleichen Ort physisch anwesend sein, um sich auszutauschen. Dadurch konnte nun ein breiteres und diverseres, auch weniger gebildetes, Publikum adressiert werden.

"Eine zentrale Frage in Bezug auf Innovationen ist immer: Wie kommt es dazu und wer bedient sich ihrer als allererstes? Was also wurde zuerst gedruckt?". Hier könne man ganz klar sagen, dass Profitinteressen eine wichtige Rolle spielten, meint Haug-Moritz. "Gutenberg wollte die Bibel billiger als bislang produzieren – auf Papier und nicht auf Pergament, sowie in einem Produktionsprozess, der viele und nicht mehr nur ein Exemplar der Bibel hervorbrachte. Gedruckt wurde alles, was sich leicht standardisieren ließ. So wurden etwa Ablassbriefe zum Erlass der Sünden gedruckt, in denen nur der Name des Sünders oder der Sünderin ausgelassen wurde, der, nachdem der Ablassbrief gekauft wurde, händisch ergänzt werden konnte. Kaiser Maximilian I. ließ Türkenmandate drucken. Sie sollten ebenso Geld in seine Kassen spülen wie die kirchlichen Ablassbriefe. Kalenderdrucke standen schließlich für einen letzten zentral wichtigen Aspekt: Sie stellten auf die Bedürfnisse der überwältigenden Mehrheit der auf dem Land lebenden Menschen ab", erklärt die Historikerin.

Verbreitung außer Kontrolle

Grundsätzlich habe sich der Buchdruck recht rasch ausgebreitet. 1452 wurde nur in Mainz gedruckt, bis 1500 in mehr als 250 Städten: "Im deutschen Sprachraum ließ in der ersten Hälfte der 1520er Jahre die Reformation die Nachfrage explodieren. Nicht Bücher, sondern billigere Produkte wie Flugblätter und kleine Broschüren – sogenannte Flugschriften – wurden millionenfach produziert und, entscheidend, verkauft". Im Lauf der Zeit habe die gesellschaftliche Kommunikation dergestalt an Eigendynamik gewonnen, so Haug-Moritz, wobei sich die Anhänger der neuen Theologien besonders umfänglich der Druckpresse bedienten. Denn – im Gegensatz zu heute – bedurfte das Neue und nicht das Alte umfassender Rechtfertigung.

Kontrollieren ließen sich neue Technologien schlecht. Dies zeigt sich darin, dass sich die komplexe Drucktechnologie, wiewohl sie bis um 1600 als Geheimtechnologie behandelt wurde, in rasantem Tempo verbreitete. Und auch das Bestreben, Schreibende und Druckerverleger, zur Rechenschaft ziehen zu können, indem sie – bei Strafandrohung – angehalten wurden, namentlich auf den Drucken aufzuscheinen, änderte nichts an der Vielzahl anonym publizierter Drucke. "Anonymität als historische Problemstellung noch genauer zu verstehen als wir dies bislang tun, könnte also für das Verständnis gegenwärtiger Probleme durchaus von Interesse sein", gibt Haug-Moritz zu bedenken. Zugleich lenke die Frage der Kontrolle die Aufmerksamkeit auf einen Unterschied der Folgen des Technologiewandels in Geschichte und Gegenwart: "In der Drucktechnologie gab es immer viele verschiedene sogenannte Gatekeeper (Torwächter), nicht nur Google, Facebook und einige wenige andere, wie heute", erklärt die Historikerin.

Technologische Innovation und gesellschaftliche Veränderungsdynamik

Das 16. Jahrhundert als Zeitalter des Medienwandels war in Kontinentaleuropa auch ein Zeitalter gewaltsam ausgetragener innerer (wie äußerer) Konflikte. Und auch wenn man inzwischen präzise nachvollziehen könne, dass in allen Konfliktregionen – zuerst in Mitteleuropa, dann in Westeuropa – die Nachfrage nach druckmedialer Information zunehmend anstieg, so betont die Historikerin, könne man nicht sagen, dass der Buchdruck mit beweglichen Lettern ursächlich für diese Konflikte gewesen sei. Vielmehr hätten sich Technologie und gesellschaftliche Bewegung gegenseitig hochgeschaukelt. "Durch die Technologie aber bekommt der gesellschaftliche Dissens auf alle Fälle eine neue Qualität. Denn nun steht nicht mehr nur die inhaltliche Seite des Konflikts zur Debatte, sondern es wird auch darüber gestritten, wer, warum und auf welche Art und Weise sich zu gesellschaftlich strittigen Fragen äußern darf und, entscheidend, die Möglichkeit erhält, sich zu äußern. Ich würde sagen, das passiert auch heute in Bezug auf die Digitalisierung", resümiert Haug-Moritz.

"Global betrachtet ist die technologische Innovation der beweglichen Lettern im Buchdruck um einiges früher in Südkorea und in China passiert als in Mitteleuropa. Doch dort, wie auch in anderen Erdteilen, veränderte der Buchdruck gesellschaftliche Kommunikationsprozesse nicht so grundlegend wie in Europa. Während in Außereuropa bis ins beginnende 19. Jahrhundert der Output der Druckerpressen marginal blieb, geht man im Europa des 18. Jahrhunderts von einer Milliarde Drucke aus, die produziert wurden – Bücher, Flugblätter, Broschüren, Zeitungen, Zeitschriften, Kalender etc. Hier wird schlaglichtartig deutlich, was wir oft vergessen: Europa ist nicht besser oder schlechter als der Rest der Welt, sondern anders".

Zu verstehen, warum sich gerade im europäischen Raum gesellschaftliche Kommunikationsprozesse, global betrachtet, früh dynamisierten, könne durchaus hilfreich sein, wenn es darum geht, zu verstehen, wie unterschiedlich eine globale Technologie wie die digitale auf verschiedene Gesellschaften einwirke, "und zwar auch und gerade deswegen, weil die historischen Voraussetzungen grundlegend andere sind", betont die Historikerin.

Abwägung von Nutzen und Nachteilen

"Neue Medien werden immer verdammt und ihre Verbreitung ist, zumindest in Europa, schon immer mit Heilsversprechen verbunden. So warnte schon Platon vor der Einführung der Lautschrift, weil sie das menschliche Merkvermögen beeinträchtige, und die Propagandisten der neuen Drucktechnologie postulierten, dass die von ihnen verbreitete Wissen wahr und daher gesellschaftlich relevant sei, da es dem Gemeinwohl diene: Auch mit dem World Wide Web verknüpften sich solche Erwartungen. Die verheißene große Demokratisierung des Wissens hat sich so jedoch nicht bewahrheitet und sie konnte sich so auch nicht bewahrheiten, denn digital zur Verfügung gestellte Informationen sind eben noch lange kein Wissen", erklärt Haug-Moritz.

Was die neuen Medien angehe, befänden wir uns momentan in einer Phase zwischen Verheißung und Verdammung. Mittlerweile seien wir, bezogen auf die Digitalisierung, nun aber schon ein Stück des Weges gegangen und könnten nun, ganz allmählich, zu einer realistischeren Einschätzung von deren Nutzen und Nachteilen kommen. Dass der Weg zu einer solchen realistischen Betrachtung jedoch ein langer und widersprüchlicher sei, ist für die Historikerin eine Einsicht, die gerade der geschichtswissenschaftliche Blick verdeutlichen würde. Um die historische Dimension der Thematik zu wissen, könnte also dazu beitragen, die gegenwärtig mitunter sehr aufgeregten Debatten mit etwas mehr Gelassenheit zu führen. (Viktoria Pammer-Schindler, Mia Bangerl, 12.9.2022)