Ana de Armas als Marilyn Monroe in "Blonde".

Foto: Netflix

Um die Spannungskurve eines Filmfestivals elf Tage lang aufrechtzuerhalten, braucht es dramaturgisches Geschick. In den vergangenen Jahren war es öfters so gewesen, dass sich im ersten Wochenende von Venedig die großen Titel zusammenballten und in der zweiten Woche dem Spektakel etwas die Luft ausging. Diese Regel trat bei der 79. Ausgabe der Mostra außer Kraft. Die Qualität hielt die Konzentration auf Höhe.

Eine Erklärung dafür könnte sein, dass sich der Stau der Corona-Jahre nun endlich auflöst: Die Industrie will den Markt mit großen Autorenfilmen durchspülen und die Lust des Publikums auf Filme, egal ob im Kino oder an der Streaming-Home-Front, wieder steigern. Beide Instanzen gieren schließlich nach Schubkraft.

Glamour und Ausbeutung

Mit Blonde, der Verfilmung von Joyce Carol Oates’ fiktionaler Biografie von Marilyn Monroe, stand am Ende noch ein Ass auf dem Programm. Beim Zugriff auf weibliche Hollywood-Stars, um deren frühen Tod sich Legenden ranken, ist es immer spannend, zu sehen, mit welchen Setzungen ein Film sein Gegenwartsbewusstsein beweist. Andrew Dominiks Netflix-Produktion ist kein gängiges Biopic geworden, das die Lebensetappen durchläuft, sondern der Versuch, sich den Sog aus Glamour und Ausbeutung anzuverwandeln, der Monroes – beziehungsweise Norma Jeane Mortensons – Leben war.

Netflix

In der stimmigen Verkörperung der kubanischstämmigen Schauspielerin Ana de Armas ist sie eigentlich eine paradoxe Figur. Denn es gibt kein zweites Gesicht der Monroe, ein Star tritt hier vielmehr gegen das Star-Image an, das ihr von einer patriarchalen Industrie auferlegt wurde. Dominiks Regie leistet sich manche Kühnheit: Monroes Karrierestart in der Filmindustrie erfolgt als sexuelle Erniedrigung, später blicken wir ihr bei einer Fellatio im Bett des Präsidenten John F. Kennedy direkt in die Augen. Dazwischen scheitern Ehen, Schwangerschaften, Ausbruchsversuche. Der Film setzt auf ein spekulatives Nahverhältnis, eine fiebrige Mischung aus Wahn und Wirklichkeit. So erzeugt er die Abwärtsspirale einer isolierten, verletzbaren Person.

Neue Sensibilität

Neben Blonde war Todd Fields Tár in Venedig einer der augenfälligsten Beiträge dafür, wie sich das aktuelle Kino zur Debatte über eine sexistische Kulturindustrie, Machtmissbrauch und Übergriffen mit neuer Sensibilität verhält. Während Monroes Suche nach väterlichen Ersatzfiguren psychologisch etwas zu eindimensional erscheint, gelangt Fields vielschichtiger Film über den Einzelfall bald zu einer Systemkritik.

Universal Pictures UK

Cate Blanchetts manipulative Dirigentin Lydia Tár folgt noch einem Kunstverständnis, in dem der edle Zweck auch unlautere Mittel heiligt. Field ist dabei so clever, keine eilfertigen moralischen Positionen zu beziehen. In einer verschachtelten Montage zeigt er ambivalente Arbeitsprozesse oder flicht einen Mobbingfall ein. Am Ende ist bezeichnend, dass nur Einzelpersonen zu Fall kommen. Gut möglich, dass er am Samstag zu den Gewinnern gehört.

Künstler im Untergrund

Das Festival selbst hat kuratorisch dazugelernt und heuer ein gutes Gespür für Vielfalt bewiesen. Mit No Bears hatte man auch einen Film im Programm, der allein durch die Verhaftung seines Regisseurs bereits hochpolitisch ist. Erneut behandelt der Iraner Jafar Panahi darin seinen eigenen Status als im Untergrund operierender Künstler. Kunstvoll verbindet er zwei Geschichten von Liebespaaren, die durch die Schikanen abergläubischer Tradition beziehungsweise staatlicher Behörden voneinander getrennt werden. No Bears ist im Grunde eine Variation des Romeo-und-Julia-Motivs, in der der Filmemacher selbst als dritte Instanz auftritt. Seine Arbeit kann den Lauf der Dinge zwar nicht verhindern, aber die Methodik dahinter aufscheinen lassen.

Film at Lincoln Center

Auch Laura Poitras’ Dokumentarfilm All the Beauty and the Bloodshed verbindet das Porträt der US-Fotografin Nan Goldin mit einer Reflexion der Verflechtung von Kunst und politischem Aktivismus. Zwei dezidiert weibliche Perspektiven auf das Überthema künstlerischer Schaffensprozesse lieferten die Filme von Joanna Hogg und Alice Diop. In Hoggs The Eternal Daughter geht es um die Schwierigkeiten einer Tochter, an die Erfahrungen und den Gefühlshaushalt der eigenen Mutter anzuschließen, was sie stilistisch überhöht als sublime Geistergeschichte erzählt. Diops in seiner formalen Nüchternheit fesselndes Spielfilmdebüt Saint Omer verfremdet die Form eines Justizdramas über eine Kindsmörderin, um eine afroeuropäische Erfahrungswelt zu durchdringen. Die beiden Arbeiten waren auch deshalb so bemerkenswert, weil sie auf visuelles Erzählen vertrauen; etwas, das im Wettbewerb ausbaufähig bleibt.

TIFF Trailers

Traditionellerweise hat man in Venedig ein großes Herz fürs Genrekino – besonders die Renegaten und Einzelkämpfer sind beliebt. Der 80-jährige Walter Hill, Regisseur von Klassikern wie The Driver oder 48 Hrs., erhielt den "Cartier Glory of the Filmmaker" und präsentierte seinen neuen Western Dead for One Dollar. Ein erfreulich zurückhaltender Christoph Waltz, ein virtuos clownesker Willem Dafoe und eine beherzt austeilende Rachel Brosnahan kommen sich in einem staubigen mexikanischen Dorf in die Quere – Hill inszeniert das im sepiafarbenen Vintage-Look und frischt klassische Tugenden mit aktuellen Akzenten auf.

Geschliffenes Erzählkino

Für solche schauspielerischen Synergien liebt man das Kino, und die Mostra bediente sie mit großem Staraufgebot. Am originellsten vielleicht in Martin McDonaghs mit trockenem Dialogwitz auftrumpfender Komödie The Banshees of Insisherin. Die Ausgangsidee dieser irischen Dorfmoritat, die im Jahr 1921 spielt, ist bestechend einfach: Ein brummbäriger Brendan Gleeson kündigt dem von Colin Farrell verkörperten Einfaltspinsel der Insel die Freundschaft auf, weil er dessen Gequatsche über Dinge wie Eselkot nicht mehr erträgt. Die Dramedy um das Missverhältnis von Selbstschutz und Kränkung stand im abwechslungsreichen Programm für Venedig für geschliffenes Erzählkino – fast schon eine Seltenheit in einem Jahrgang, in dem Filme mit offenen Formen dominierten, die unbequeme Fragen stellen. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 10.9.2022)