Für Joe Biden steht viel auf dem Spiel.

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Es ist ein Topos, der fast jede US-Wahl der jüngeren Geschichte begleitet – jener, dass es die wichtigste der jüngeren Zeit sein wird, wenn nicht gar der US-Geschichte. Auch im Vorfeld der kommenden Midterm-Elections, die am 8. November stattfinden werden, war das schon oft zu hören – bereits Monate, bevor am Dienstag die letzten parteiinternen Vorwahlen in Delaware, New Hampshire und Rhode Island über die Bühne gehen. Ganz glauben muss man das diesmal nicht – sowohl die Präsidentenwahl vor zwei Jahren wird sich in späteren Zeiten wahrscheinlich als wichtiger erweisen als auch, erst recht, jene 2024. Allerdings: Die wichtigsten Midterm-Wahlen der jüngsten Zeit könnten tatsächlich vor uns liegen. Denn egal, ob Budget für Militäreinsätze und -hilfen, Regelungen gegen die Inflation oder für Wirtschaftshilfen – darüber entscheidet am Ende der Kongress. Er hat es in der Hand, die zweite Hälfte der Präsidentschaft Joe Bidens zum Erfolg zu machen – oder zum Flop. Und vor allem: Auch der Schutz künftiger freier Wahlen in den USA hängt maßgeblich vom Ausgang dieses Urnengangs ab.

Die Ausgangslage

Sie ist ein statistisches Mammutprojekt, das die USA nur alle zehn Jahre auf sich nehmen: Die Volkszählung, von der unter anderem die Zuteilung der Wahlkreise an die Bundesstaaten abhängt. Weil sie diesmal, 2020, unter Präsident Donald Trump begonnen wurde und noch dazu während der Pandemie stattfand, war die Sorge vor verzerrten Ergebnissen groß. Sie war unbegründet – am Ende des sogenannten Redistricting, bei dem die Bundesstaaten auf Basis des Zensus Wahlkreise neu festlegen, entstanden zwar auf beiden Seiten des Spektrums mehr parteiisch gezogene Grenzen. Bundesweit, so Statistik-Fachleute, gleichen sie sich aber aus – keine der Parteien wird massiv bevorzugt. Allerdings gibt es in vielen Staaten neue Wahlgesetze. Sie sollen Angehörigen von Minderheiten die Teilnahme am Urnengang erschweren und helfen so meist den Republikanern.

Die Entscheidungen

  • Gouverneursposten: Vor wenigen Monaten schien alles klar: Präsident Joe Biden ist so unbeliebt wie kaum einer seiner Vorgänger an diesem Punkt seiner Amtszeit; die Inflation plagt die Menschen; und weil die Demokraten in Repräsentantenhaus und Senat in sich zerstritten sind, geht auch in der Gesetzgebung nichts weiter. Die Umfragen sagten den Republikanern einen fulminanten Sieg in beiden Kammern voraus. Mittlerweile hat sich das geändert: Biden hat sein versprochenes Klimapaket durch den Kongress gebracht, plötzlich scheint es, als seien die Demokraten doch an ihren Versprechen zu messen. Die Lage in der Wirtschaft hat sich leicht stabilisiert, vor allem der starke Jobmarkt hilft. Zugleich hat der Supreme Court nach Jahrzehnten republikanischer Forderungen die Entscheidung Roe v. Wade rückgängig gemacht, die Frauen im ganzen Land das Recht auf Abtreibungen garantierte. Die Republikaner stehen nun auch in der öffentlichen Wahrnehmung als radikal da – und der Vorwahlkampf, in dem Ex-Präsident Donald Trump vielfach Kandidaten erfolgreich unterstützte, die seiner Lüge von einer gestohlenen Wahl 2020 anhängen, hat diesen Eindruck gestützt. Die Umfragen deuten mittlerweile auf knappe Rennen.

  • Repräsentantenhaus: 435 Sitze gibt es in der größeren Kongresskammer, im Repräsentantenhaus. Sie werden großteils nach Mehrheitswahlrecht und dem Prinzip "first past the post" vergeben, wonach Kandidatinnen mit den meisten Stimmen in ihrem Wahlkreis den Sitz gewinnen. Einige Bundesstaaten haben aber andere Bestimmungen. Genaue Umfragen sind daher besonders schwierig. Als Gradmesser gilt das "Generic Ballot", bei dem Wahlberechtigte nach ihrer Parteipräferenz gefragt werden. In einem von der Analyse- und Umfrageplattform Fivethirtyeight errechneten Durchschnittswert liegen die Demokraten, die lange im Rückstand waren, nun mit einem Prozentpunkt voran. Unter Berücksichtigung von Umfragen in einzelnen Wahlkreisen errechnet die Seite aber auch Siegwahrscheinlichkeiten. Dabei wird den Republikanern eine Chance von 74 Prozent zugemessen. Zu lesen ist das wie ein Wetterbericht: In 74 Prozent der Fälle mit gleichen Bedingungen würden den Regeln der Wahrscheinlichkeit nach die Republikaner siegen, in 26 Demokraten.

  • Senat: Den kurzen Amtszeiten im Repräsentantenhaus sollen längere im Senat entgegenstehen. Sechs Jahre dauern sie, die Abgeordneten sollen nicht "kurzfristigen Leidenschaften" der Zeit unterworfen sein, so der Wunsch der US-Gründerväter. Nur ein Drittel der hundert Sitze wird alle zwei Jahre neu gewählt. 34 wären es in diesem Jahr, ein weiterer kommt dazu, weil in Oklahoma nach dem Rücktritt von Amtsinhaber Jim Inhofe auch dessen Sitz neubesetzt werden muss. Die Grundvoraussetzungen helfen den Demokraten, denen der aktuelle Gleichstand von 50 zu 50 ja nur durch die entscheidende Stimme von Vizepräsidentin Kamala Harris zur Mehrheit reicht. Denn nur 14 Mandate muss die Partei heuer verteidigen, 21 die Partei der Republikaner. Fivethirtyeight gibt den Demokraten einerseits deshalb eine Chance von 70 Prozent auf den Sieg. Aber auch die Vorwahlen halfen ihnen. Gleich mehrfach gewannen dort Trumpisten, die in normaleren Zeiten als gänzlich unwählbar gelten würden. In Pennsylvania tritt TV-Arzt Mehmet Oz, der früher gern eigene Mittelchen verkaufte, gegen den volksnahen demokratischen Vizegouverneur John Fetterman an. In Ohio, eigentlich stabil republikanisch, tritt Venture-Kapitalist J. D. Vance, der einst im Buch Hillbilly Elegy Trump kritisiert hatte, mit dessen Segen gegen den konservativen Demokraten Tim Ryan an – und liegt in Umfragen zurück. Auch in North Carolina und Georgia werden den demokratischen Kandidaten mehr Chancen zugesprochen, als die Grundvoraussetzungen nahelegen würden

  • Gouveneure: Oft im Hintergrund, realpolitisch aber zunehmend von Bedeutung sind die Wahlen um Gouverneursämter. Ganze 36 stehen heuer an, dabei müssen sich 20 Republikaner und 16 Demokraten der Wiederwahl stellen. Knapp wird es dabei gleich in mehreren Bundesstaaten: Im Swing-State Wisconsin hofft der Demokrat Tony Evers, sich gegen den Trump-Adlatus Tim Michels zu verteidigen, in Pennsylvania will sich der Demokrat Josh Shapiro gegen den besonders weit rechts stehenden Trumpisten Doug Mastriano durchsetzen – Umfragen sehen ihn vorn. Einen Rückstand weisen sie der Demokratin Stacey Abrams aus, die erneut versucht, Gouverneurin Georgias zu werden. In Arizona hingegen hoffen die Demokraten auf einen Sieg gegen die republikanische Kandidatin Kari Lake, die Joe Bidens Wahlsieg nicht anerkennt.

Der Ablauf

Als die Welt im November 2020 auf Meldungen zum Ausgang der US-Präsidentenwahl wartete, wartete sie lang. Von Dienstag bis Samstag dauerte der Auszählungsprozess, bis Joe Biden von den Hochrechnungszentren der großen TV-Anstalten als gewählter Präsident prognostiziert wurde. Wird es diesmal wieder so lang dauern? Vermutlich nicht. Die Briefwahl, die 2020 nicht nur für Verschwörungstheorien sorgte, sondern auch die Auszählung verzögerte, ist in den meisten Bundesstaaten zurückgefahren worden. Zudem sind insgesamt weniger Stimmen auszuzählen – die Beteiligung ist bei Midterm-Wahlen niedriger. Offen ist hingegen, wie der Wahltag laufen wird: Mehrere Bundesstaaten haben ihre Wahlgesetze ja deutlich verschärft. Viele Menschen, die gerne abstimmen würden, werden das nicht können und abgewiesen werden. Zudem ist zu vermuten, dass es vor allem in Wahllokalen, die Angehörige von Minderheiten besuchen, noch längere Schlagen geben wird als sonst. Denn gerade in diesen Gegenden haben republikanisch geführte Staaten die Zahl der Wahllokale reduziert.

Die Folgen

Glaubhafte Ergebnisse, stabile Methoden zur Auszählung, schlechte Chancen für Betrug wegen der dezentralen Organisation – bis vor kurzem hatten die USA als Modell gegolten, wie mit recht einfachen Methoden sichere Wahlen abgehalten werden können. Aber: Das Vertrauen ist erschüttert, Grund dafür ist Donald Trumps jahrelange Arbeit daran, den Glauben in die Demokratie zu zerschlagen. 2020 standen seine Anhänger mit widersprüchlichen Schildern – mit "Stop the count!" dort, wo er führte, mit "Every vote counts!" dort, wo er zurücklag – vor den Wahllokalen, auch Angriffe auf Wahlbeamtinnen und Freiwillige wurden gemeldet. Am Ende stand Trumps Weigerung, die Wahl anzuerkennen – und der Sturm auf das Kapitol vom 6. Jänner. Droht Ähnliches im November erneut? Wohl nicht – dafür gibt es zu viele unterschiedliche Entscheidungen. Das Vertrauen aber ist nicht wiedergefunden. Nur 58 Prozent der Befragten hatten im Juli 2022 noch Vertrauen, dass Wahlen den Willen der Menschen wiedergeben – vor allem zweifelten Republikaner. Demokraten allerdings äußerten oft Sorge hinsichtlich der Zukunft. (Manuel Escher, 12.9.2022)