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An historischen Vergleichen wurde nicht gespart, als die Nachricht von den Gebietsgewinnen der ukrainischen Armee am Wochenende die Runde machte: "Die größte Gegenoffensive seit dem Zweiten Weltkrieg" nannte der US-Militäranalyst John Spencer den Vorstoß nahe der Großstadt Charkiw, der – bis Sonntagnachmittag – mehr als 3.000 Quadratkilometer besetzten Gebiets wieder unter die Kontrolle Kiews gebracht haben soll.

Zum ersten Mal seit 1945 habe Russland ganze Einheiten verloren, meldete die BBC-Korrespondentin Orla Guerin. Und Präsidentenberater Mychajlo Podoljak schwärmte in Kiew gar von einem "fantastischen ukrainischen Herbst" – und der Wende im Krieg, der nun schon 200 Tage andauert.

Größter Erfolg seit März

Einig war man sich jedenfalls in der Einschätzung, dass die ukrainische Armee in den vergangenen drei Tagen den russischen Invasionstruppen die größte Niederlage seit der Vertreibung aus dem Raum Kiew in den ersten Kriegswochen zugefügt hat. Doch was ist passiert?

Lang hatte Kiew die Welt darüber im Unklaren gelassen, ob und wann die ukrainische Armee ihre angekündigte Großoffensive zur Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete im Osten des Landes starten würde. Nun erweist sie sich als umso erfolgreicher. Die ukrainischen Streitkräfte haben nach Angaben ihres Armeechefs Walerij Saluschnyj seit Anfang September 30 Ortschaften und mehr als 3.000 Quadratkilometer russisch besetzten Gebiets zurückerobert und weiten ihre Offensive im Nordosten des Landes aus. Gemäß diesen Angaben wurden in drei Tagen mehr Gebiete befreit, als Russlands Armee in vier Monaten Abnutzungskrieg im Donbass eingenommen hat.

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Vor allem die Vorstöße auf die strategisch wichtigen Städte Isjum, Kupjansk und Balaklija gelten als Prestigeerfolge, weil sie die Nachschublinien der russischen Besatzer durchbrechen. Die Bilder von Soldaten, die die ukrainische Flagge hissen, stärken zudem die Moral. Tausenden russischen Soldaten droht nun die Einkesselung. Laut Medienberichten vom Sonntag wurde auch in der Ortschaft Kosatscha Lopan unmittelbar an der russischen Grenze die ukrainische Flagge aufgezogen. Das Moskauer Verteidigungsministerium spricht lediglich von einer "Umgruppierung" seiner Truppen im Raum Charkiw – und von einem weiteren Schritt zu der von Wladimir Putin versprochenen "Befreiung" des Donbass.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hingegen erklärte den kommenden – und aufgrund der Energie- und Wirtschaftskrise gefürchteten – Winter zu einem Wendepunkt im Krieg gegen Russland: "Er kann zur schnellen Befreiung der Ukraine führen. Wir sehen, wie sie (die russischen Streitkräfte, Anm.) in einige Richtungen fliehen", sagte Selenskyj – und verknüpfte die Erfolgsmeldung mit einem Appell an den Westen, der ukrainischen Armee weiter tatkräftig zu helfen: "Wenn wir noch ein bisschen stärker mit Waffen wären, würden wir noch schneller vorankommen."

Ob es sich bei der offenbar erfolgreichen Gegenoffensive tatsächlich um den von Kiew proklamierten Wendepunkt handelt, ist für den Analysten Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie aber nicht klar: "Die Botschaft aus Kiew ist, es zahlt sich aus, die Ukraine zu unterstützen. Wie es wirklich steht und ob es sich tatsächlich um einen Wendepunkt handelt, werden wir aber erst im Frühling wissen", sagte er dem STANDARD.

Verhandlungen

Angesichts der ukrainischen Erfolge im Nordosten gibt sich Moskau nun offen für Verhandlungen – jedoch nach wie vor nur zu seinen Bedingungen. "Russland lehnt Verhandlungen mit der Ukraine nicht ab, doch je länger der Prozess hinausgezögert wird, desto schwerer wird es, sich zu einigen", sagte Außenminister Sergej Lawrow am Sonntag im Staatsfernsehen und machte deutlich, dass sich sein Land nicht nur mit der Ukraine in einem "Spezialoperation" genannten Krieg sieht, sondern mit dem gesamten Westen. Dieser versuche, unter allen Umständen seine Vormachtstellung zu bewahren. Auch deshalb habe es auf dem Verhandlungstisch bisher keine Fortschritte gegeben, was die Ukraine betrifft, so Wladimir Putins Chefdiplomat.

Jubelnd zeigen diese Soldaten die ukrainische Fahne in Kupjansk.
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Von den von Moskau diktierten Bedingungen für einen Frieden rückte er indes nicht ab. Russland fordert von der Ukraine, auf einen etwaigen Nato-Beitritt zu verzichten und die Gebietsverluste in Donezk und Luhansk zu akzeptieren.

Am Sonntagabend feuerten russische Kriegsschiffe mehrere Marschflugkörper auf die Stromversorgung der Ukraine am. Manche wurden abgefangen, aber das Heizkraftwerk bei Charkiw wurde getroffen, in Teilen des Landes fiel der Strom aus, auch der Bahnverkehr war beeinträchtigt.

Sorge um AKW

Am Samstagabend telefonierte der französische Präsident Emmanuel Macron mit Selenskyj, um Klarheit über die Situation im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja zu erlangen. Der Betrieb des von russischen Truppen besetzten AKWs ist am Sonntag nach Angaben des staatlichen Betreibers vollkommen eingestellt worden. Auch der sechste und damit letzte Block der Anlage sei vom Stromnetz genommen worden, teilt Energoatom mit.

In der unmittelbaren Umgebung kommt es immer wieder zu Kämpfen. Internationale Beobachter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) warnen vor einer Katastrophe. Die regionalen Behörden hatten die Bewohnerinnen und Bewohner vergangene Woche zur Flucht aufgerufen. (Florian Niederndorfer, 11.9.2022)