Vor ihrem Duell in St. Louis gab es den Handshake zwischen Magnus Carlsen (links) und Hans Niemann. Danach gab es Carlsens Rückzug und einen Tweet. Jetzt gibt es einen Skandal.

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Österreichs Großmeister Markus Ragger glaubt nicht an eine Unüberlegtheit Carlsens.

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Es hat nicht lange gedauert, und wir sind in der Nimzowitsch-Indischen Verteidigung gelandet. Doch dies ist nicht die einzige Vertiefung im Schachskandal um Magnus Carlsen und Hans Moke Niemann, in einer Geschichte, die mit einer Niederlage des norwegischen Superstars gegen den US-Teenager beim Sinquefield Cup in St. Louis begann. Carlsen hatte am dritten Turniertag eine noch dazu seltene Variante der Nimzowitsch-Indischen Verteidigung gewählt, doch Niemann hielt mit Schwarz nicht nur dagegen, sondern triumphierte. Weltmeister Carlsen stieg vorzeitig aus dem Turnier aus, vertwitterte ein andeutungsvolles Interview des Fußballtrainers José Mourinho und warf seinem 19-jährigen Bezwinger damit eher direkt als indirekt Betrug vor.

Seither ist die Schachwelt gespalten, die Carlsen-Fraktion attackiert Niemann frontal, andere verteidigen den Buhmann. Da und dort wird wie wild darüber spekuliert, wie Niemann denn betrogen haben könnte – schließlich werden Turnierteilnehmer quasi wie auf Flughäfen durchleuchtet, bevor sie sich ans Brett setzen. Der kanadische Großmeister Eric Hansen mutmaßte gar, Niemann hätte Analkugeln, nun ja, eingesetzt, die ihm durch Vibrationen bestimmte Züge signalisiert hätten. Und Hansen ist nicht irgendwer, sondern seit 2013 Großmeister, nahm an vier Schacholympiaden teil und hat auf seinem Youtube-Kanal Chessbrah mehr als 280.000 Follower.

Unschuldsvermutung

Andere stellten sich hinter Niemann. Rafael Leitão, brasilianischer Großmeister, will nach Analyse der Carlsen-Niemann-Partie mithilfe starker Schachprogramme "keine Hinweise auf Hilfe von außen gefunden" haben. Der französische Großmeister Maxime Vachier-Lagrave machte laut Spiegel gar eine "Hexenjagd" auf Niemann aus, und Levon Aronian, Ex-Schnell- und Blitzschach-Weltmeister aus Armenien, stellte fest, etliche Kollegen seien "ziemlich paranoid".

Dazu äußert sich der österreichische Großmeister Markus Ragger (34) nicht, doch über den Skandal, der die Schachwelt in Atem hält, macht auch er sich Gedanken. Im Gespräch mit dem STANDARD betont er zunächst: "Es gibt die Unschuldsvermutung, und daran kann nicht gerüttelt werden." Das muss freilich nicht heißen, dass Ragger von Niemanns Unschuld überzeugt ist. Denn: "Carlsen ist zwar sicher kein guter Verlierer. Aber einen solchen Schritt würde er nicht setzen, wenn er sich nicht völlig sicher ist, dass Niemann gecheatet hat. Ich glaube auch nicht, dass Carlsen unüberlegt getwittert hat. Ich würde meinen, er hat noch etwas in der Hand."

Niemanns Entwicklung

Die nächsten Tage werden spannend, werden zeigen, ob Carlsen gegen Niemann noch etwas vorbringen kann. Dass er damit das Turnierende abwartet, erscheint Ragger logisch. Am Sonntag wurde finalisiert in St. Louis. Niemann lag nach Niederlagen gegen Wesley So und Fabiano Caruana auf dem siebenten von neun Plätzen. Zehnter im Bunde war Carlsen, nach dessen Ausstieg Niemann der Punkt für den Sieg gestrichen wurde.

Niemann hat zugegeben, dass er sich in Partien auf der Online-Plattform chess.com zweimal von Computern helfen ließ, als Zwölf- und als 16-Jähriger. Das liefert der Carlsen-Fraktion Munition. Niemann wiederum wundert sich, dass er auf chess.com erst jetzt gesperrt wurde, wo chess.com noch dazu gerade dabei ist, sich mit Carlsens Firmengruppe Play Magnus geschäftlich zu verbandeln.

Beim Sieg über Carlsen spielte Niemann laut Ragger "zwar nicht perfekt, aber schon wie aus einem Guss". Ob der rasche, von Niemanns Kritikern oft erwähnte Aufstieg des kalifornischen Teenagers tatsächlich verdächtig sei, will Ragger nicht beurteilen. Jedenfalls kann er bestätigen, dass sich Niemann auch im Blitz- und Schnellschach enorm verbessert habe. Der Kärntner Ragger ist gut mit dem französischen Großmeister Laurent Fressinet bekannt, der steht als Carlsen-Sekundant nicht im Verdacht, Niemann zur Seite zu springen. Fressinet hatte sich mit Niemann, als der in Paris war, zum Blitzschach verabredet. Ragger: "Laurent hat erzählt, dass ihn Niemann beim Blitzen regelrecht fertiggemacht hat."

Schummelansätze

Die These mit den Analkugeln scheint Markus Ragger – und nicht nur ihm – sehr weit hergeholt. Doch die Diskussion insgesamt habe ihr Gutes, schließlich werde darüber geredet, wie Schummeln am Schachbrett ausgeschlossen werden kann. 15-minütige Verzögerungen bei den Übertragungen könnten helfen, reichen aber vielleicht nicht aus. "Für mich gibt es zwei Ansätze", sagt Ragger. "Entweder einer schummelt alleine – schwierig umzusetzen. Oder ein Zweiter hilft ihm, dann stellt sich immer die Frage, wie der die aktuelle Stellung erfährt." (Fritz Neumann, 12.9.2022)