Der Wind pfeift kalt über die Felder, der von vielen langersehnte Regen ist zumindest einen Tag lang endlich da. Bio-Landwirt Erich Stekovics steht am Morgen dieses kühlen unwirtlichen Augusttags am Rande seines schier unendlich langen Tomatenfeldes im burgenländischen Frauenkirchen und referiert über sein Lieblingsgemüse. Das streng genommen aber gar keins ist, wie er erklärt, denn botanisch sind die Paradeiser – wie auch Paprika – Früchte.

Gewachsene Vielfalt: ein Teil der 1000 Paradeisersorten, die im burgenländischen Seewinkel von Erich und Priska Stekovics jährlich kultiviert werden.
Foto: Felix Watzek, Peter Angerer, Priska Stekovics

Dass manche der Tomatensorten tatsächlich wie Obst schmecken, können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Koch.Campus (ein Verein von Spitzenköchen, Produzentinnen, Hoteliers und Foodexperten, der dem Erfahrungsaustausch und der Erforschung regionaler Grundprodukte gewidmet ist) am Nachmittag bei einer Verkostung erleben. Dazu später, denn auf dem Feld soll es nicht um Begrifflichkeiten gehen, sondern um ernstere Themen. Ist der Seewinkel doch als landwirtschaftliches Anbaugebiet bedroht – zumindest für jene Pflanzen, die derzeit in großem Stil für die Industrie angebaut werden. Das betrifft unter anderem Mais und Erdäpfel, die relativ viel Wasser benötigen.

Dürrejahr

Erich Stekovics auf seinem Paradeiserfeld.
Foto: Petra Eder

Viele Maisfelder im Seewinkel sehen in diesem globalen Dürrejahr – gelinde gesagt – katastrophal aus. Felder mit kleinen, vertrockneten Pflanzen und kaum ausgebildeten Kolben sind links und rechts der Straßen zu sehen. Stekovics’ Tomaten sind hingegen prall, die Blätter grün.

Claudia Winkowitsch demonstriert, wie die Erde unter dem Stroh beschaffen ist.
Foto: Petra Eder

Der im Seewinkel häufig wehende Wind ist für die Tomaten kein Nachteil, er hilft beim Bestäuben und trocknet – sollte es denn doch regnen – die Blätter und schützt damit vor Pilzerkrankungen. Die Pflanzen auf dem Feld sind nicht aufgebunden und liegen auf einer dicken Strohschicht, unter der die Schwarzerde ganz ohne künstliche Bewässerung feucht bleibt, wie Claudia Winkowitsch, Bodenexpertin der burgenländischen Landwirtschaftskammer, anschaulich demonstriert. Tomaten wurzeln bis zu 1,50 Meter in die Tiefe, horizontal kann sich das Wurzelgeflecht 1,30 Meter und mehr ausbreiten, erklärt sie.

Kurze Geschichte

In Österreich sind Tomaten ein relativ neues Kulturgemüse. Nachdem die spanischen Eroberer Pflanzen und Samen Anfang des 16. Jahrhunderts von Amerika nach Europa gebracht hatten, waren sie zunächst als Zierpflanze in Gärten der Adeligen und der Klöster zu finden. Die Spanier hatten die Pflanze fälschlicherweise "Tomate" genannt – nachdem die Azteken ein anderes, ähnliches Nachtschattengewächs in Mexiko so benannt hatten. Die Italiener gaben ihr den klingenden Namen "pomi d’oro" – "Goldäpfel", was als Hinweis angesehen wird, dass die ersten Früchte in Italien nicht rot, sondern gelb waren. Von dort war es nicht weit zum Paradiesapfel, und seiner Abwandlung "Paradeiser".

Pomodori di Sardegna: Die kleinen, länglich-ovalen Früchte sind sehr süß und aromatisch. Die Pflanzen können bis zu zwei Meter hoch werden. Darüber hinaus gelten die Früchte der – wie der Name schon sagt – aus Sardinien stammenden Sorte als besonders lange lagerfähig.
Foto: Peter Angerer
Azoychka Russian: Der Geschmack nach Mango zeichnet diese alte russische Fleischtomatensorte aus. Die goldgelben Früchte reifen schon relativ früh und können bis zu einem halben Kilogramm schwer werden. "Azoychka Russian" lässt sich auch in kühleren Regionen kultivieren.
Foto: Peter Angerer

Shootingstar

Das Nachtschattengewächs galt zunächst als giftig, mit der Zeit wurden den Früchten aphrodisierende Kräfte zugeschrieben und sie auch "Liebesapfel" genannt. Im Süden Italiens hingegen, das damals von Spanien regiert wurde, sind Tomatengerichte schon im 17. Jahrhundert dokumentiert, von dort breitete sich die Tomate dann langsam nach Norden und damit auch nach Österreich aus. Bei der Wiener Weltausstellung 1873 wurde sie als "exotisches Gemüse" präsentiert, auf den Märkten aber erst rund um 1900 verkauft.

Justus Zuckersüß: Diese alte Sorte aus Deutschland kann im Topf oder Freiland angebaut werden und hat einen beerigen Geschmack. Trotz des Namens ist sie – laut Stekovics – im Vergleich zu anderen Sorten, die er in seiner Sammlung hat, gar nicht so außerordentlich süß. Sie trägt früh und reichlich
Foto: Priska Stekovics
Grüne Moldawische: Viele Menschen essen lieber rote Tomaten, doch sich darauf zu beschränken wäre schade. Die Fleischparadeiser der Sorte "Grüne Moldawische" sind sehr dünnschalig, saftig und enthalten nur wenige Kerne. Sie gelten als robust und sollten nur im Freiland kultiviert werden.
Foto: Peter Angerer

Nach dem Ersten Weltkrieg gelang der Paradeis, wie sie im Osten Österreichs häufig genannt wird, dann der Durchbruch. Seit damals hat sie sich zum beliebtesten Gemüse hierzulande entwickelt. Immerhin ganze 33 Kilogramm davon werden in Österreich pro Kopf und Jahr sowohl roh als auch in Saucen verzehrt oder in Form von Ketchup zu Pommes frites auf die Teller geklatscht, 1995 betrug der Konsum nur 16 Kilogramm. Allerdings kommt nicht einmal ein Fünftel von heimischen Feldern, Folientunnels oder Glashäusern. In Haupterntezeiten gibt es zwar ein Überangebot, doch dieses landet zum Teil in Biogasanlagen, da die Preise international nicht konkurrenzfähig sind.

Chinesische Vorherrschaft

Global hat seit Jahren China die Vorherrschaft als Tomatenproduzent übernommen. Dosenetiketten mit sanft lächelnden, Kochlöffel schwingenden Nonnas samt italienischer Flagge bedeuten noch lange nicht, dass der Inhalt auf italienischem Boden gewachsen ist. Lediglich 3,3 Prozent der weltweiten Ernte stammen aus Italien, während fast 35 Prozent aus China kommen. Viele Tomatenprodukte werden in Italien zwar abgefüllt, die Früchte stammen jedoch aus China. "Um die 39 Cent, die eine Dose Schältomaten dann kostet, bekommen Sie bei uns nicht mal die Dose", sagt Stekovics. Für die Industrie steht nicht der Geschmack an erster Stelle, sondern es zählt der Ertrag, die Transport- und Lagerfähigkeit. Diese Eigenschaften sind jedoch bei vielen älteren Sorten wenig vorhanden.

Die Vielfalt im Supermarkt ist daher gering, der Anbau – auch in Österreich – erfolgt großteils auf Steinwolle oder Kokosfaser. Dann dürfen sie allerdings nicht mit einem Biosiegel geschmückt werden. Die Samen von 3.400 Sorten haben Stekovics und seine Frau Priska mittlerweile gesammelt, jährlich wird rund ein Drittel davon angebaut. 20 unterschiedliche mit klingenden Namen wie "Justus Zuckersüß", "Grüne Moldawische" oder "Pomodoro di Sardegna" wurden beim Kochcampus verkostet.

Die Farbpalette reichte von Rot über Grün-Gestreift bis Gelb-Violett. Manche davon schmecken süß, manche säuerlich, manche sind dick-, manche dünnhäutig, andere stechen durch ihre Saftigkeit hervor. Stekovics’ Lieblingssorte ist übrigens die gelbe Johannisbeertomate, die man wie ihre Namensgeberin einfach naschen kann. Wir reden hier ja schließlich von Früchten. (Petra Eder, 16.9.2022)

Die Teilnahme erfolgte mit Unterstützung des Kochcampus.