Blümchensex ist für viele zu langweilig.

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Wir sind seit kurzem Nachbarn, mein Freund, der wilde Künstler, und ich. Das gemeinsame Architekturerlebnis ist der vorläufige Höhepunkt unserer langjährigen Freundschaft. Ich wohne im sechsten Stock und er eine Etage darüber, mit Balkon. Dort sitzen wir jetzt und sprechen über das Leben. Wie so oft denkt der wilde Künstler laut vor sich hin: "Nur dieses klassische Rein-raus, was soll das bringen?", seufzt er. "Vanillasex interessiert mich einfach nicht. Da fehlt mir der Überbau, das Narrativ." – "Okay", sage ich. Zehn Tage war ich am Meer. Dieses Treffen ist unser Wiedersehenskaffee. Und weil erst neun Uhr in der Früh, frage ich nach: "Was meinst du eigentlich konkret?" – Der Blick des wilden Künstlers schweift über die Dächer von Wien. Dann atmet er aus und sagt: "Erotik braucht Inszenierung. Nur so geht die Post ab. Das ist wie Zaubern."

Happy Hokuspokus

Wie sich herausstellt, beschäftigte sich der wilde Künstler in der Zeit meiner Abwesenheit intensiv mit dem Phänomen des Zauberns. Nicht mit dem Hokuspokus des Mittelalters wie Fluch- und Herbeiwünschmagie. Nein, mit bühnenreifen Tricks, die auf Fingerfertigkeit und Überzeugungskraft beruhen. "Zauberkünstler sind extrem gute Erzähler", erklärt er. Sie bringen ihr Publikum dazu zu glauben, dass Assistentinnen schweben, Tauben aus dem Hut fliegen und Uhren von Handgelenken verschwinden. "Aber in Wirklichkeit hängt alles, was schwebt, an einer Schnur. Und alles, was plötzlich auftaucht, wird aus dem Ärmel gezogen", ruft er mit leuchtenden Augen. "Immer! Weil es keine Zauberei gibt! Ist das nicht geil?"

David-Copperfield-Effekt

Was hat die gute alte Blümchenliebe bloß so in Verruf gebracht? Menschen mit modernen Nerven finden Vanillasex, also Körperkontakt, der ohne fetischorientierte oder sadomasochistische Elemente auskommt, zum Gähnen langweilig. "Nach dreimal bist du durch", behauptet mein Freund als Anhänger der Zaubershow-Variante. Da fragt man sich natürlich: Darf man überhaupt noch Händchen halten? Schmusen, ohne sein Gegenüber als Installateur, Pirat, strenge Königin oder willige Zofe zu besetzen? Es sieht verdammt schlecht aus für Romantiker. Hatte uns Hollywood das nicht ganz anders verkauft? Aber vielleicht ist der Mensch ja auch als erotischer Trickser gedacht. Falls Sie also beim nächsten Restaurantbesuch im Kellner Ihren früheren Lateinlehrer sehen und von Vokabelprüfungen im FKK-Modus träumen: Keine Sorge, das ist der David-Copperfield-Effekt. (Ela Angerer, RONDO, 1.10.2022)