In der Logistikbranche gibt es das sogenannte "Problem eines Handelsreisenden". Muss ein Zusteller 23 Packerln an unterschiedliche Orte liefern, bedarf es einer enormen Rechnerleistung, um die optimale Route hinsichtlich Zeit und Spritverbrauch zu berechnen.

Bei der Wiener Seidl-Rallye sieht das Problem ähnlich aus. Innerhalb eines Tages in allen 23 Bezirken ein Seidl Bier trinken, lautet das Ziel. Offizieller Brauch ist das keiner – mehr verbreitetes Ritual, von dem niemand so genau weiß, woher es kommt. Ist das zu schaffen? Eine Meinung hat dazu schnell einmal jemand, deswegen braucht es die Probe aufs Exempel. Fest steht jedenfalls: Wer die Strecke nicht genau plant, hat keine Chance. (Lokalliste siehe Infokasten)

An einem sonnigen Samstagvormittag ist es dann also so weit: Mit sechs Freunden starte ich die Reise durch Wien, nach der es vorhersehbarerweise nicht die Muskeln sind, die katern werden.

Ohne solide Vorbereitung ist die Rally nicht zu schaffen. Der Kartendienst eines großen Suchmaschinenanbieters aus den USA bietet sich dafür an.
Foto: Oana Rotariu

Nervöse Grundstimmung

Ausgelöst von den taktischen Diskussionen in den Vortagen, lag anfangs noch Nervosität in der Luft. Nach einer akribischen Google-Maps-Studie für die Lokalliste war ein zentrales Thema, wer was wann wie frühstückt. Ham & Eggs mit viel Brot dominierten die Frühstücksteller. 23 Seidln stehen auf dem Programm, das sind knapp 7,6 Liter Bier. Ein Wohlfühlprogramm für Körper und Geist sieht definitiv anders aus.

Neun Uhr vormittag, Café Falk im 22. Bezirk, Prost. Die Kellnerin testet in nonchalanter Mundl-Manier gleich unsere Disziplin, nachdem sie vom Plan und der Route gehört hat: "Wissts eh, ist ein breiter Weg nach Floridsdorf, nehmts lieber a zweites als Stärkung." Wir lehnen bravourös ab.

Auf dem Weg zu den Bezirken 21 und 20 tauchen erste "Unsicherheiten" auf. Zweimal über zehn Minuten auf die Bim warten. "Geht sich das eh alles aus?" Was für Paketzusteller der Stau ist, sind lange Öffi-Wartezeiten für Seidl-Rallye-Teilnehmer. Zurück in der Innenstadt sind die Sorgen vergessen. Über ein klassisches Wirtshaus in der Leopoldstadt geht es zum geografisch wertvollen Drei-Bezirke-Eck (1./8./9.) entlang der Alser Straße. Triple-Prost.

Zam, zam, zam....
Foto: Danzer

Frage der Kulinarik

Die Uhr schlägt zwölf, für ein ordentliches Mittagessen ist allerdings keine Zeit. Somit folgt die erste von drei Runden Leberkässemmeln. Zudem gab es über den weiteren Tag bzw. Abend verteilt ein paar Pizzen zum Teilen und drei große Teller Pommes. Lukullisch gesehen nicht die Champions League, aber unerlässlich, um durchzuhalten.

Knapp ein Drittel ist absolviert, die Gemütslage ist gut und wird – welch Wunder – auch immer besser. Nächster Stop: 19. Bezirk, Bahnhof Heiligenstadt. Im s’Weckerl gipfelt erstmals die Stimmung, und das sollte auch in den drei kommenden Lokalen so bleiben. Entlang der S45 absolvieren wir die Stationen 18./17./16. Besonders die Gerüchteküche in Hernals und das Café Jackie in Ottakring entpuppten sich als exzessiver Höhepunkt des angewandten Wiener Charmes. Tschumsn oder Tschocherl lauten die Fachbegriffe für diese gastronomischen Relikte aus einer Zeit vor Poke-Bowls, Chai-Latte und pseudo-abgeranzten Hochglanzlokalen.

Damit alles sein Richtigkeit hat, wurde jedes Bier im Lokal bestätigt.
Foto: Franz Bomber

Hernois is ois

"Wie weit seids schon?", lautet gleich nach unserer Ankunft in der Gerüchteküche die Frage eines älteren Herren, dessen Stimme darauf schließen lässt, dass er Marlboro zeit seines Lebens beim Geldverdienen hilft. Verwirrte Blicke unsererseits. "Fast jede Seidl-Rallye landet bei uns, setzts euch her", schießt er nach. In Ottakring empfängt uns Jackie höchstselbst.

Sie freue sich, mal andere "Gfriesa" zu sehen, aber vorm Klo müssten wir ruhig sein. Wichtiges Preisschnapsen. "Euch mach ich noch zu Stammkunden", sagt sie lächelnd, während sie sieben Seidln serviert. Dann unterschreibt sie mein handgeschriebenes Logbuch, in dem alle Stops verzeichnet sind. Ein Paketzusteller holt sich auch ein Autogramm. So viel Zeit muss sein.

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Die erste Hälfte der Tour macht wirklich Spaß – die zweite entwickelte sich mehr und mehr zu Arbeit.
Foto: Getty Images

Unterschätzte Gefahr

In all diesen Beisln fallen wir ab Sekunde eins auf wie sprechende Hunde, doch überall werden wir herzlich aufgenommen, und schnell rennt der Schmäh. Das birgt eine Gefahr, die wir unterschätzt hatten: das Sitzenbleiben. Erste Diskussionen beginnen. "Kommts, bleiben wir noch " – solche Ansätze werden aber schnell demokratisch erstickt.

Bei der Tour de France gilt der schwerste Abschnitt in den Alpen als Königsetappe. Unsere Fahrt nach Liesing fühlt sich auch nach mühsamem Abstrampeln an, königlich aber so gar nicht. Das Asia-Buffet Alterlaa ist der bisherige Tiefpunkt. Die Sache wird langsam etwas mühsam. Was so lustig anfing, fühlt sich mittlerweile ein bisschen wie "Arbeit" an. Außerdem gewinnt Wasser immer mehr an Attraktivität.

Ein Zwischenstand bei Station Nummer 20 in Simmering. Schöner wurde die Handschrift dann nicht mehr.
Foto: Danzer

Kein Leben ohne Wasser

In jedem Lokal füllen wir die Trinkflaschen auf, die wir in weiser Voraussicht seit der Früh mit uns herumtragen. Hydriert bleiben bis zum nächsten Beisl lautet die Devise. Ohne Wasser ist das Projekt aussichtslos. Freilich beschleunigt das viele H2O den Rhythmus, der bereits meinen halben Tag dominiert. Toilettenbesuch beim Betreten des Lokals, Seidl trinken, Toilettenbesuch beim Verlassen.

Zwischen Alterlaa und Nummer 20 in Simmering brechen von den sieben Köpfen vier weg. An der allerletzten Hürde – einem Asia-Restaurant im Fünften – scheitere ich. Es ist 22 Uhr, und nach 22 Seidln sagt mein Körper: Aus! Nur zwei von den sieben vollenden die Tour, ich ärgere mich nicht einmal, nicht dazuzugehören. Bei der Nachbesprechung am Sonntag tauchen für die letzten paar Stopps bei allen Erinnerungslücken auf. Und der Kater fühlt sich an, als hätte ich auch für die anderen mitgetrunken. (SELBSTVERSUCH: Andreas Danzer, 13.9.2022)