Der Spanier Carlos Alcaraz ist die neue Nummer eins der Tenniswelt.

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Der Österreicher Thomas Muster war der König von Paris und sechs Wochen lang die Nummer eins der Weltrangliste.

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Der rasante Aufstieg des Carlos Alcaraz.

Der nahezu überdimensionale Rafael Nadal verneigte sich, das spanische Königshaus gratulierte überschwänglich, und in El Palmar, der Heimat von Carlos Alcaraz, lagen sich die Menschen völlig euphorisiert mitten in der Nacht in den Armen. Als der historische Doppelschlag des kometenhaften Aufsteigers in New York perfekt war, gab es kein Halten mehr.

"Ich bin so happy", sagte Alcaraz. "Ich bin 19 Jahre alt, alles ist so schnell gegangen." Dass er die Zukunft des Tennis ist, hatte der Ausnahmeathlet mit seinen Leistungen in dieser Saison mehr als angedeutet. Dass die neue Zeitrechnung bereits im September 2022 beginnt, ist erstaunlich und für die Konkurrenz furchteinflößend.

"Willkommen in der Ära Alcaraz", titelte "AS" nach dem 6:4, 2:6, 7:6 (1), 6:3-Finalerfolg bei den US Open gegen den Norweger Casper Ruud. Der gefeierte Held aus der Region Murcia ist der jüngste Grand-Slam-Sieger seit Nadal in Paris 2005. Er ist mit 19 Jahren und vier Monaten die jüngste Nummer eins seit 1973, als die Weltrangliste den heutigen Modus erhielt. Er löste Lleyton Hewitt ab. Und "Carlos I.", wie die Marca den "neuen Tenniskönig" taufte, der insgesamt die Rekordzeit von 23 Stunden, 40 Minuten in New York auf dem Platz stand, will noch deutlich mehr. Er hält ja erst bei sechs Turniersiegen und einem Preisgeld von knapp zehn Millionen Dollar.

Computerausdruck

Thomas Muster hat sich das Finale im Fernsehen angeschaut. "Phasenweise fantastisch." Er kennt das Gefühl, die Nummer eins zu sein, der 54-Jährige wurde es am 12. Februar 1996. Acht Monate nach seinem Triumph bei den French Open. Von den Emotionen her war es ein überschaubares Ereignis. "Ein Computerausdruck." Muster blieb insgesamt sechs Wochen an der Spitze. Einen Vergleich mit Alcaraz lehnt der Steirer im Gespräch mit dem STANDARD ab. "Ich war damals 28, wurde es am letzten Drücker."

Mit dem Wort "Wunderkind" tut sich Muster schwer. "Ich habe ihn vor einem Jahr in der Wiener Stadthalle kennengelernt. Es war erstaunlich, wie komplett er schon damals war. Vom Kopf her, vom Tennis her. Er machte einen absolut leistungsorientierten Eindruck auf mich. Und nun hat er tatsächlich geliefert, es ist eine außergewöhnliche Geschichte." Dass Alcaraz im Viertelfinale gegen den Italiener Jannik Sinner einen Matchball abgewehrt und nach 5:15 Stunden gewonnen hat, "ist ein Klassiker. Das macht die Geschichte richtig rund."

Natürlich, sagt Muster, habe es auch "günstige Umstände" gegeben. Alexander Zverev ist verletzt, Novak Djokovic durfte wegen der fehlenden Corona-Impfung in New York nicht antreten. Der Serbe hatte Wimbledon gewonnen, fiel trotzdem auf Platz sieben zurück, da in London keine Weltranglistenpunkte vergeben wurden. Die Briten hatte Russen und Russinnen aufgrund des Ukraine-Krieges ausgeschlossen, der ATP passte das nicht.

Muster ist überzeugt, dass in Alcaraz "noch enormes Potenzial steckt. Er kann sich überall verbessern, beim Aufschlag, am Netz." Das Umfeld um Trainer Juan Carlos Ferrero, der vor 19 Jahren ebenfalls Nummer eins war, "ist absolut perfekt. Die wissen, was zu tun ist."

Durchgemischt

Das Männertennis werde jedenfalls "durchgemischt". Die acht Viertelfinalisten der US Open hatten allesamt noch kein Grand-Slam-Turnier gewonnen. Neben Alcaraz traut Muster dem US-Amerikaner Frances Tiafoe und Sinner "viel zu". Ruud sieht er nicht als Seriensieger, sondern "als soliden Top-Five-Spieler". Normalerweise pflegen Spanier auf Sand durchzustarten, Alcaraz zog den Hartplatz vor. Für Muster ist das eine Normalität. "Die Beläge sind ähnlich geworden. Es gibt keine Spezialisten mehr."

Ob Dominic Thiem noch einmal vorne mitmischen kann, weiß Muster nicht. "Das ist alles Spekulation. Das Potenzial hätte er. Er braucht einen starken Herbst, denn das Protected-Ranking kann er bald vergessen. Nur mit Wild Cards ist es schwierig. Es ist eine Kopfsache. Ganz an die Spitze wird er es wohl nicht mehr schaffen, aber die Top Ten schließe ich nicht aus."

Alcaraz’ Coach Ferrero ist überzeugt, dass sich sein Schützling weiter verbessern wird. Er sei gerade einmal "bei 60 Prozent seines Spiels". Offenbar hält Ferrero es nicht für komplett abwegig, dass Alcaraz auch in der Anzahl der großen Titel Nadal nacheifern kann. "Wir reden hier von 22 Grand Slams", sagte Ferrero. "Es liegt ein langer Weg vor ihm. Aber wer weiß? Ich glaube, wir müssen es nur versuchen."

Muster schließt sich dieser Einschätzung an. Alcaraz sagte noch: "Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für mich, müde zu sein." (Christian Hackl, 12.9.2022)