Christian Thielemann dirigiert Bruckner.

Foto: Matthias Creutziger

Wien – Der liebe Gott, an den Anton Bruckner innig geglaubt hat, hat dem Menschen Herz und Hirn geschenkt und ihm aufgetragen, beides zu nutzen. Eine in allen Bereichen lebenslange Aufgabe – nicht nur im Umgang mit Musik. Was würde Dirigent Christian Thielemann sagen, welcher Bereich den Vorrang habe? Bei der Saisoneröffnung im Wiener Konzerthaus gab es eine Art von Antwort. Selbstverständlich ist er mit Bruckners 5. Symphonie engstens vertraut.

Im Zweifel regiert bei ihm aber, wie Probenmitschnitte zeigen, die Intuition. Das führt zu enormer Suggestivität, der man gebannt lauschen kann, zumal das Orchester ein so klangschönes und volles Pianissimo hintupft wie am Beginn des ersten und vierten Satzes. Die "Zauberharfe" – Richard Wagners Bezeichnung für den Klangkörper – wird da lebendig.

Harmonische Kühnheiten

Homogenität und einheitliche Spannungsbögen gelingen in höchstem Maße, sind aber dem Kontrast im Kleinen wie im Großen übergeordnet. Harmonische Kühnheiten, Dissonanzen in der Melodik sind davon ebenso betroffen wie stilistische Unterschiede, etwa zwischen Folkloristischem, Naturlauten und Quasi-Sakralem. Von den Brüchen und Problemen, die man in Bruckner sehr wohl erkennen kann, bleibt kaum die leiseste Ahnung.

Zweifellos erzielen Dirigent und Orchester eine überwältigende Wirkung, wenn auch der Klang nicht nur in den massiven Stellen manchmal erstaunlich undifferenziert gerät. Starker Applaus. (Daniel Ender, 12.9.2022)