In Lobuche versiegte 2019 die Trinkwasserquelle. Der Wassermangel führte zu lokalen Konflikten.

Foto: Anna Sawerthal

Es sind eigentlich nur noch wenige hundert Meter bis zur Pyramide, einer Forschungsstation mitten im Himalaja, irgendwo zwischen dem Basislager des Mount Everest und der Sherpa-Hauptstadt Namche Bazar. In dem schmalen Seitental des Khumbu wirbelt dichter Schneeregen, vielleicht hat es zehn Grad, vielleicht auch nur fünf. Sicher ist, dass es hier richtig ungemütlich ist, trotz Regenponcho. "15 Minuten" stand auf dem Schild an der Weggabelung. Die fühlen sich auf 5000 Meter, bei nur 54 Prozent des üblichen Sauerstoffgehalts und bei dem Wetter aber viel länger an.

Zur Pyramide muss man sich den Eintritt verdienen, lacht dann auch Gian Pietro Verza. "Alles wird hier von der Natur diktiert." Verza sitzt in seinem Labor, eingepackt in eine alte Daunenjacke, mit einem dampfenden Becher Kaffee in der Hand. Seit 1990 kommt der Bergführer und Techniker jedes Jahr zwei-, dreimal hier herauf, die Pyramide ist sein zweites Zuhause. Hier oben gebe es zwei Regeln, erklärt er. Erstens: Verstehe die Umwelt. Und zweitens: Verstehe, wie dein Körper darin funktioniert. Denn die Natur, sagt er eindringlich, "die gewinnt hier immer".

Nach sechstägigem Fußmarsch, mit stetig wachsendem Sauerstoffmangel, hat der Ort etwas Surreales. Wir befinden uns in Nepal, ganz nah am Himalaja-Hauptkamm. In fünf Minuten ist man mit dem Helikopter in Tibet, die Grenze ist nicht einmal sieben Kilometer entfernt. Zum Basislager sind es nur noch fünf Stunden zu Fuß. Darüber thront der höchste Berg der Welt, der Mount Everest.

Berge wie Teenager

Der Himalaja ist das größte, aber auch das jüngste Gebirge der Erde, erklärt Verza. Die Berge hier seien wie Teenager – sprunghaft, dynamisch, "unberechenbar". Hinzu kommt der Klimawandel. Studien zeigen, dass die Erwärmung im Himalaja viel schneller vorangeht als im Rest der Welt. Die Folgen sind diffus, oftmals nicht intuitiv: schnelle Gletscherschmelze bei unregelmäßigem Niederschlag. Langanhaltende Dürren, dann wieder Überschwemmungen.

Dass es um diese Jahreszeit hier oben im Khumbu so schneit, ist unüblich, erzählen alle, mit denen man spricht. Doch die Berge ändern sich. Das merken die Forscher nicht nur durch ihre eigenen Beobachtungen. Seit 30 Jahren nehmen die Messstationen des Pyramid International Laboratory/Observatory alle zehn Minuten Wetterdaten auf. Und die zeigen deutlich: Die Region wird eigentlich immer trockener, die Niederschlagsmengen gehen deutlich zurück.

Kancha Sherpa war schon 1953 auf dem Everest. Der Berg hat sich stark verändert.
Foto: Anna Sawerthal

Erinnerung an kalte Nächte

Angesichts des Wetters vor der Tür ist das kaum vorstellbar. Aber umgekehrt schmelzen die Gletscher immer schneller. Ein paar Täler weiter östlich hat sich ein riesiger Gletschersee gebildet, der Imja-See, der noch in den 1950ern nicht einmal existierte. Und das Basislager am Everest begleitet mittlerweile ein Fluss. Früher war dort alles tiefgefroren.

Das weiß auch der 92-jährige Kancha Sherpa. Auch 70 Jahre danach erinnert er sich an alles, als wäre es gestern gewesen. Die vielen Lastträger und Tiere, die von Kathmandu aus Richtung Everest zogen. Edmund Hillary, den neuseeländischen Bergsteiger. Und Tenzing Norgay, bei dem er selbst angeheuert hatte. Er erinnert sich an die Kälte in der Nacht, an den Wind oben am South Cole und an den Raksi, der ihnen abends den Magen wärmte. Kancha Sherpa ist der einzige heute noch Lebende der ersten erfolgreichen Everest-Expedition von 1953. Selbst war er nie auf dem Gipfel, sondern nur gut 200 Meter darunter.

Heute betreiben er und seine Familie eine Lodge in Namche Bazar. Er sitzt in seiner beheizten Stube in einer blauen Fleecejacke. Um seinen Hals hängt ein Malla, ein buddhistischer Rosenkranz. Auf seine Hutkrempe ist das Foto des lokalen Lamas gesteckt.

Fels statt Schnee auf den Gipfeln

Früher sei der Schnee erst im Mai oder Juni geschmolzen. "Aber wir haben die Götter verärgert", zeigt sich Kancha überzeugt. "Doch wenn es keinen Schnee mehr in den Bergen gibt, dann gibt es auch keinen Schnee in den Flüssen. Was machen wir dann?" Kancha kann viele Fotos von früher zeigen, auf denen die schneebedeckten Gipfel um Namche Bazar zu sehen sind. Heute sind viele von ihnen schwarz. Der blanke Fels verändert das Klettern. Aber vor allem verändert der Klimawandel den Alltag der Menschen, die im Khumbu leben. 2019 war etwa in Lobuche, wenige Höhenmeter unterhalb der Pyramide, die lokale Trinkwasserquelle versiegt. Schnell kam es zu Konflikten in der kleinen Siedlung.

Das Khumbu-Tal sei eigentlich ein reiner Ort, sagt Kancha Sherpa. "Das sind Götter, diese Berge." Es sei für niemanden gut, wenn sie wütend sind. "Wir sollten die Berge sauber halten und aufhalten, dass der Schnee so schnell schmilzt", appelliert er. Für den Italiener Verza sind die Berge vielleicht keine Götter, aber spezielle Indikatoren: Was man in einem Jahr am Berg lernt, sei zehnmal mehr als im Flachland.

Die globale Erwärmung verändert zunehmend das Klima in der Himalaya-Region.
Foto: Anna Sawerthal

Kaum lokale Lösungen

Vor Ort gibt es seit Jahren Initiativen, um unmittelbaren Folgen zu begegnen: Ein Kanal lässt seit 2016 den Imja-See kontrolliert ab. Eine lokale Sherpa-Organisation kümmert sich seit Jahren um das Müllmanagement in dem berühmten Tal.

Die zunehmende Gletscherschmelze ist aber nicht auf lokaler Ebene zu lösen. Ob Nepal, Bangladesch oder Pakistan – viele Staaten entlang des Himalaja und solche in dessen Ökosystem gehören zu den ärmsten der Welt. Sie produzieren selbst vergleichsweise kaum CO2. Es sind die Riesen wie China und Indien und die reichen Länder des Westens, die den größten Fußabdruck haben. Die Auswirkungen müssen aber die vielen kleinen Länder tragen. Verheerende Überschwemmungen haben gerade ein Drittel von ganz Pakistan unter Wasser gesetzt.

Die Länder wollen sich nun koordinieren, um beim Weltklimagipfel im November in Sharm-el-Sheikh mehr Druck auszuüben. Gemeinsam versuchen sie, wie schon in Glasgow im vergangenen Jahr, einen globalen Mechanismus für Entschädigungen für besonders klimavulnerable Länder durchzusetzen. Die Hoffnungen, dass endlich etwas passiert, bleiben aber bescheiden.

Auf der Pyramide hat der Schneesturm nachgelassen. Wir treten vor die Tür, durch die nasse Luft erahnt man die Bergriesen, die Eisfälle, die schneebedeckten Hänge. Viele neue Blumen würden hier nun blühen, erzählt Verza. Und nächste Saison, während des Monsuns, da wollen sie zum ersten Mal Kartoffeln im Glashaus ziehen. Auf 5000 Metern Seehöhe. Warum? Weil es möglich geworden ist. Alles wird von der Natur diktiert, hat Verza gesagt. Der Mensch, der muss sich ihr anpassen. (Anna Sawerthal aus Namche Bazar, 13.9.2022)