Der Homo heidelbergensis war ein Jäger und Sammler. Aus Tierhäuten wusste der Vorfahre des Neandertalers auch Kleidung und Unterkünfte zu fertigen.

Illustr.: Department of Archaeology, University of Cambridge / Gabriel Ugueto

Die britischen Inseln sind geschichtsträchtiger Boden, entsprechende menschliche Spuren weisen weit in die Altsteinzeit zurück. Einzelne Funde ließen in der Vergangenheit den Schluss zu, dass womöglich vor annähernd einer Million Jahre menschliche Vorfahren britischen Boden betreten hatten. Dabei dürfte es sich jedoch nur um Kurzbesuche gehandelt haben. Jüngste Ausgrabungen ergaben nun, dass Menschen im Süden Großbritanniens sich vor bereits etwa 560.000 bis 620.000 Jahren längerfristig niedergelassen hatte.

Bestätigt wurde dies durch archäologische Funde nahe Canterbury, Kent. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der University of Cambridge konnte dabei belegen, dass Homo heidelbergensis, ein Vorfahre des Neandertalers, damals das südliche Britannien – als es noch mit Europa verbunden war – bewohnte und schon zu diesem frühen Zeitpunkt Tierhäute verarbeitet hat.

Erste Funde vor 100 Jahren

Die in einem alten Flussbett gelegene Fundstätte in Canterbury wurde ursprünglich in den 1920er Jahren entdeckt, als Arbeiter dort Faustkeile fanden, deren Alter nun schließlich mit Hilfe moderner Datierungsmethoden bestimmt werden konnte. Die Forschenden haben bei diesen erneuten Ausgrabungen aber nicht nur die ursprüngliche Fundstätte datiert. Zusätzlich haben sie dort neue Feuersteinartefakte entdeckt, darunter erstmals auch sogenannte "Schaber".

Mit Hilfe der Infrarot-Radiofluoreszenz-Datierung (IR-RF) war es dem Team dann gelungen festzustellen, wann die umlagernden Feldspat-Sandkörner zum letzten Mal dem Sonnenlicht ausgesetzt waren, wann also die Werkzeuge von Sedimenten überlagert wurden.

Von Eiszeiten vertrieben

In ihrer Studie verweisen die Forschenden auf frühere Untersuchungen, die besagen, dass Menschen sich bereits vor 840.000, möglicherweise sogar bereits vor 950.000 Jahren in Großbritannien aufgehalten haben. Diese frühen Besuche waren jedoch nur von kurzer Dauer: Kaltzeiten vertrieben die menschliche Populationen wiederholt aus Nordeuropa und auf eine Wiederbesiedlung Großbritanniens während der Warmzeit vor 560.000 bis 620.000 Jahren deutete bisher nur wenig hin. An mehreren Fundorten in Suffolk vermutete man Werkzeuge aus dieser Zeit, aber eine genaue Datierung dieser Fundstücke gelang lange Zeit nicht.

Die aktuellen Grabungen brachten den Beweis, was schon länger vermutet worden war: Bereits vor etwa 560.000 bis 620.000 Jahren haben sich Menschen im Süden Großbritanniens aufgehalten.
Foto: Department of Archaeology, University of Cambridge

"Das ist das Wunderbare an dieser Fundstätte in Kent", sagt Tobias Lauer von der Universität Tübingen, der die Datierung der neuen Fundstelle leitete. "Die Artefakte befinden sich genau dort, wohin der alte Fluss sie getrieben hat. Somit können wir sicher sagen, dass sie hergestellt wurden, bevor sich der Fluss in einen anderen Bereich des Tals verlagerte."

Belege für Schab- und Stechwerkzeuge

"Die Vielfalt an Werkzeugen ist fantastisch. In den 1920er Jahren wurden an diesem Ort einige der ältesten Faustkeile gefunden, die jemals in Großbritannien entdeckt wurden", ergänzte Alastair Key von der University of Cambridge, der die Ausgrabung leitete. "Jetzt haben wir zum ersten Mal Belege für Schab- und Stechwerkzeuge aus dieser sehr frühen Zeit gefunden."

Der Homo heidelbergensis war ein Jäger und Sammler, der Großteil der Werkzeuge diente also möglicherweise zur Verarbeitung von Tierkadavern – wie beispielsweise von Hirschen, Pferden, Nashörnern und Bisons – sowie zur Beschaffung und Verarbeitung von Knollen und anderen Pflanzenteilen. Ein Beleg dafür sind die scharfkantigen Flocken- und Faustkeilwerkzeuge, die an der Fundstelle zu finden sind. Funde von Schab- und Stechwerkzeugen deuten aber auch darauf hin, dass die Menschen damals noch weiteren Aktivitäten nachgegangen sein könnten.

Eine Auswahl an Steinwerkzeugen, die in der Gegend um Canterbury bereits 1920 entdeckt worden waren.
Foto: Alastair Key et al.

Als Großbritannien noch keine Insel war

"Schaber wurden in der Steinzeit oft zur Verarbeitung von Tierhäuten genutzt", sagte Tomos Proffitt vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, der die Werkzeuge analysierte. "Die Funde deuten möglicherweise darauf hin, dass die damaligen Menschen Tierhäute zur Herstellung von Kleidung und für ihre Behausungen genutzt haben." Das große Spektrum an Steinwerkzeugen, nicht nur unter den ursprünglichen, sondern auch unter den neuen Funden, zeigt, dass die Homininen damals im heutigen Großbritannien nicht nur überlebten, sondern dass es ihnen dort gut ging.

Zu dieser Zeit war Großbritannien noch keine Insel. Vielmehr lagen diese Landstriche auf einer nordwestlichen Halbinsel des europäischen Kontinents. Die damaligen Menschen konnten sich also in einem sehr viel weiteren Umkreis bewegen, als es die heutige Küstenlinie von Kent erlaubt – wobei die Fundstätte aber möglicherweise nur in den wärmeren Sommermonaten aufgesucht wurde.

"Es gibt noch so viel über diese menschlichen Populationen zu erfahren", sagte Matthew Skinner von der University of Kent. Insbesondere hoffen die Forschenden, bei künftigen Ausgrabungen Skelettüberreste jener Menschen zu finden, die die Steinwerkzeuge hergestellt haben. (red, 13.9.2022)