Jean-Luc Godard brach mit Konventionen des Kinos.
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Im 20. Jahrhundert galt das Kino für eine Weile als die siebente und auch als die letzte Kunst: ein technisches Medium, das Literatur, Theater, Malerei, Skulptur, Musik in sich aufnahm und zu einem Gesamteindruck verband. So richtig ernst hat diesen Anspruch allerdings kaum einmal jemand genommen – mit einer großen Ausnahme: Jean-Luc Godard hat Filmkunst in genau diesem Sinn gemacht, als Gesamtkunst seiner Epoche. Und er blieb damit nicht im 20. Jahrhundert stecken, sondern machte sich bald auf die Spur der Elektronisierung, später der Digitalisierung seiner Kunst.

Als Vermächtnis bleibt nun von ihm ein Bildbuch: Le Livre d'image, so heißt sein Film aus dem Jahr 2018, eine Collage, die das Ganze der menschlichen Zivilisation in den Blick nahm und es gleichzeitig einem Umsturz zuführen wollte. Denn unverhohlen stand am Ende dieses Bildbuchs ein, wenngleich ästhetisch verschlüsselter, Revolutionsaufruf.

Alles anders machen

Dass die Dinge nicht so bleiben können, wie sie sind oder vielleicht einmal waren, das ist eine zentrale Parole der Moderne. Auch Godard, der 1930 in Paris geboren wurde, gehörte als junger Mann zu einer Gruppe, die alles anders machen wollte, zuerst einmal in ihrem Feld, dem französischen Kino. Ein paar Regisseure sorgten Ende der Fünfzigerjahren für Aufsehen, vor allem Francois Truffaut mit Les Quatre Cents Coups. 1960 debütierte dann Jean-Luc Godard, der Sohn aus einer französisch-schweizerischen Verbindung: À bout de souffle (Außer Atem) markiert einen jener Umschlagpunkte in der populären Kultur, die tatsächlich alles neu ausrichteten. Die Geschichte eines Liebespaars in Paris: er ein Polizistenmörder, gespielt von Jean-Paul Belmondo, sie eine amerikanische Journalistin, die auf den Champs Élysées die Zeitung International Herald Tribune verkauft. Jean Seberg wurde mit ihrer Kurzhaarfrisur zu einer Ikone der Ära. Und Godard zeigte mit einem genialen Auftritt, dass man zugleich populäres Kino und schon dessen Remix machen konnte. Außer Atem ist tatsächlich eine Gründungsurkunde des modernen Kinos.

Bis 1968 drehte Godard dann in einem enormen Tempo Film um Film, viele mit seiner damaligen Partnerin Anna Karina. Manche Titel wurden zu geflügelten Worten, zum Beispiel Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in dem er die neue Welt der Vorstädte in den Blick nahm. 1968 wurde für ihn dann zu einer radikalen Zäsur. Aus dem Film Weekend (1967), einer apokalyptischen Bestandsaufnahme der damaligen westlichen Zivilisation, stieg er mit der pathetischen Formel Ende der Erzählung / Ende des Kinos aus.

Die Hoffnungen der Studenten des Pariser Mai auf einen Umsturz des ganzen Systems bezog Godard zuerst einmal auf das Kino, aus dem er sich zurückzog, in die Anonymität des Kollektivs Groupe Dziga Vertov, mit dem er bis Anfang der 70er-Jahren eine Reihe von Agitprop- oder Revolutionsfilmen machte, in denen sich schon der hermetische oder schwer verständliche Godard der späteren Perioden ankündigte.

Ikonisch: Jean-Luc Godard Anfang der 1970er-Jahre.
Foto: Imago

Ausdehnung klassischer Stoffe

Eine der Konsequenzen aus der damaligen Abkehr vom geläufigen Kino war auch ein Ortswechsel: 1973 verließ Godard gemeinsam mit seiner neuen Partnerin Anne-Marie Mièville, mit der er bis zuletzt das Leben und viel Arbeit teilte, Paris und ging zuerst nach Grenoble und schließlich nach Rolle in der Schweiz, am Genfer See, in der Nähe seiner Heimat. Hier versuchte er, mit der neuen Videotechnologie, an der er das allergrößte Interesse hatte, so etwas wie ein kleines Studio aufzubauen, eine unabhängige Medienfabrik, aus der schließlich zwei große (Anti-)Serien hervorgingen: Six fois deux und France/tour/détour/deux/enfants, die bezeichnenderweise in dem deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zu Godard nicht einmal genannt werden: experimentelle Medienarbeit, die das Fernsehen als Wissensmaschine und als Instrument zur Gegenindoktrination umzuwidmen versuchte.

1980 kehrte Godard schließlich zum Kino zurück; jedenfalls wurde die Tatsache, dass er mit Sauve qui peut (la vie) einen halbwegs konventionellen Film mit Stars (Isabelle Huppert, Jacques Dutronc) drehte, als "Rückkehr" verkauft. Es begann eine neuerliche Periode äußerst intensiver Produktivität, in der er sein Prinzip einer collagierenden Überarbeitung von geläufigen Stoffen vom amerikanischen Genrekino, das in den 60er-Jahren das große Vorbild war, auf die klassischen Stoffe ausdehnte: Maria und Joseph (eine Variation des biblischen Mythos) oder der unterschätzte King Lear.

In all diesen Jahren trug Godard sich auch schon mit der Idee einer Art Universalfilmgeschichte, die dann Ende der 80er-Jahre allmählich begann, Gestalt anzunehmen: Die Histoire(s) du Cinéma ergaben schließlich nicht weniger als ein Weltgedächtnis in Bildern, vielfach vom Fernseher abgefilmt, eine Video-Trance-Installation, in der er auch seine kontroversen Thesen zum Verhältnis des Kinos zu dem entscheidenden historischen Faktum des 20. Jahrhunderts eher andeutete als ausformulierte: Hatte das Kino vor Auschwitz versagt?

NO SLEEP

Esoterische Essays, philosophische Exkurse

Das sind Fragen, die den späten Godard dann nicht mehr losließen. Im Grunde sind die Filme seiner letzten 20 Jahre, beginnend mit For Ever Mozart (1996), allesamt esoterische Essays, in denen er seine weitläufigen Lektüren mit philosophierenden Diskursen und einem nie erlahmenden Interesse für neueste Technologien verband. So entstand ein "letzter" Film nach dem anderen, jedes Mal schaffte er es aufs Neue, seinen Abschied hinauszuzögern, und verblüffte das Kino mit überragenden Werken wie Adieu au Langage (2014), in dem er ein Bastel-3D mit einer Erkenntnistheorie des Kinos verband (und versuchte, die Welt wie ein Hund zu sehen).

Dass ein Individuum der Welt eine derartige Fülle an Aufgaben hinterlassen könnte, wie es bei Godard der Fall ist, scheint heute angesichts der Leichtigkeit jeglicher Medienproduktion nicht mehr ganz so erstaunlich wie noch 1977 oder 1997. Mit Jean-Luc Godard verliert nicht einfach das Kino, sondern verliert die abendländische Zivilisation einen oft mieselsüchtigen, eigensinnigen, auch unvernünftigen Intellektuellen, der in Bildern und Tönen auf eine Weise aufs Ganze ging, die wohl nie mehr einzuholen ist.

Am Dienstag ist Jean-Luc Godard im Alter von 91 Jahren gestorben. (Bert Rebhandl, 13.9.2022)