"Bin ich abscheulich?", fragt sich Oliver Sim auf seinem Debütalbum.

Foto: Casper Sejersen

Gefühle. Oliver Sim hat so viele, sie reichen für zwei. So singt er es auf "GMT," der achten Nummer seines Debütalbums "Hideous Bastard". Sein Titel verrät schon, dass die Gefühle nicht nur von der wohlig-warmen Sorte sind. Von dem Bassisten und Ko-Sänger der kultisch verehrten Millennial-Band The xx hat man wahrscheinlich auch keine Oden an die Freude erwartet. Wer The xx kennt, weiß, dass auch dort die Melancholie fixes Bandmitglied ist.

Oliver Sim

Mit ihren drei Alben – das erste erschien 2009, das letzte 2017 – prägten die Londoner Sandkastenfreunde um Mastermind Jamie Smith, alias Jamie xx, eine Art "Sound of Silence" für die digitale Generation. Die zwei einander umschlingenden Stimmen von Oliver Sim und Romy Madley Croft, Romys ephemeres Gitarrenspiel, Sims Bass und die reduzierte Produktion von Jamie xx waren gleichzeitig so selbstgenügsam wie einflussreich in Hinblick auf das Musikschaffen der 2010er-Jahre. Während Sim und Croft bei The xx mit ihren recht allgemein gehaltenen Texten eher eine Stimmung als konkrete Aussagen vermittelt haben und dabei immer distanziert blieben, wird Sim auf seinem Debüt nun persönlich. Er geht dorthin, wo es wehtut.

Willens, geliebt zu werden

In der letzten Strophe des Openers "Hideous" will er "radikal ehrlich" sein und sagt gerade heraus, was den 33-Jährigen viele Jahre lang belastet hat: "Been living with HIV / Since seventeen / Am I hideous?" Im Vorfeld des Outings via Song hat sich Sim mit vielen queeren Männern der Musikbranche ausgetauscht. Dabei hat sich Jimmy Somerville (Bronski Beat) als besondere Vertrauensperson erwiesen. Sein ikonisches Falsett steuerte Somerville nicht nur auf dem Song bei ("Be bright, have trust / Just be willing to be loved"), er übernahm auch die Rolle des Engels im Video zu "Hideous". Sim will mit seinem Coming-out aber nicht Mitleid heischen, sondern sich die Scham und das Stigma vom Leib singen.

Oliver Sim

Dass ihn die Krankheit nicht definiert, zeigen die anderen Songs auf "Hideous Bastard", in denen er verschiedene Rollen ausprobiert und Facetten von sich zeigt ("Unreliable Narrator", "Confident Man" oder das sehr gelungene, sinnliche "Sensitive Child"). Oft geht es auch einfach nur um das, worum es bei Popmusik immer geht: die Liebe, wie in dem wunderschön-gospeligen "GMT", der Up-Beat-Nummer "Romance With a Memory" oder dem zarten "Saccharine", das von allen Songs auf dem Album soundtechnisch am meisten an The xx erinnert.

Oliver Sim

Obwohl "Hideous Bastard" auch von Jamie xx produziert worden ist, ist Sim hier etwas Eigenständiges gelungen. Er trauert, er verführt, er schreit und ist dabei so selbstkritisch wie selbstbewusst. Er will sich nicht mehr verstecken – wer das Album gehört hat, weiß: Das sollte er auch nicht. (Amira Ben Saoud, 14.9.2022)