Die Kritik an Russlands Präsident Wladimir Putin wird lauter.

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Es sind ungewohnte Töne, die dieser Tage in der russischen Politik angeschlagen werden. Nachdem über ein halbes Jahr lang kaum etwas anderes als geeinte Unterstützung für den Krieg gegen die Ukraine, der in Russland "Spezialoperation" heißen muss, zu hören war, regt sich im Zuge der militärischen Rückschläge in der Region Charkiw Kritik. Und diese kommt nicht mehr nur aus der verfolgten Opposition.

Bereits vergangene Woche brachen Abgeordnete aus dem Sankt Petersburger Stadtteil Smolinskoje ein politisches Tabu, als sie den russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen des Ukraine-Krieges drastisch kritisierten. "Unserer Meinung nach zeigen sich seit dem Beginn der Spezialoperation auf dem Gebiet der Ukraine in den Handlungen des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin Anzeichen einer Straftat, die im Artikel 93 der Verfassung der Russischen Föderation beschrieben wird – Hochverrat", heißt es in einem Dokument, das der Abgeordnete Dmitry Palyuga auf Twitter veröffentlichte.

Ermittlungen gegen Putin

Der Vorwurf geht einher mit einem Appell an die Staatsduma. Diese solle Ermittlungen gegen Wladimir Putin einleiten und ihn von seinen Aufgaben als Präsident entbinden. Die Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine führe nicht zu den erklärten Zielen des Kreml, die Ukraine zu entmilitarisieren und die Ausweitung der Nato nach Osten zu verhindern, sondern schlage in das Gegenteil um. Die Politik des Präsidenten stelle deshalb eine Gefährdung für die Bürger Russlands dar, finden die Verfasser. Gegen fünf der Verfasser wurden in der Folge Protokolle wegen "Diskreditierung der amtierenden Regierung" aufgenommen.

Die Abgeordneten aus Sankt Petersburg sind nicht allein mit ihrer Haltung. Am Montag forderten Lokalpolitiker aus zunächst 18 Bezirken Moskaus und Sankt Petersburgs die Absetzung Putins. Binnen etwa eines Tages kamen laut der Initiatorin, Ksenia Torström aus Sankt Petersburg, über 40 weitere Unterschriften von Volksvertretern hinzu. Der Bezirksrat des Moskauer Stadtteils Lomonosowskij veröffentlichte sogar ein Video, in dem seine Angehörigen dem Präsidenten vorwarfen, Russland in die Zeit des Kalten Krieges zurückversetzt zu haben. Putins Weltsicht sei "hoffnungslos veraltet", verlas Timofej Nikolajew von der liberalen Oppositionspartei Jabloko und forderte den Präsidenten zum Abdanken auf.

Kritik von mehreren Seiten

Dass die Rücktrittsforderungen aus der Lokalpolitik tatsächlich zu einem Wechsel an der Spitze der Russischen Föderation führen, ist kaum denkbar. Doch es zeichnet sich eine Entwicklung ab: Kritik kommt in Russland nicht mehr nur von einzelnen exponierten Oppositionellen, die leicht durch Verhaftung auszuschalten sind. Sie wird immer mehr von einer breiteren politischen Front geäußert.

Doch zu dieser gehören nicht nur solche, die den Krieg beendet sehen möchten. Auch in nationalistischen Telegram-Gruppen, die dem Kreml seit Kriegsbeginn das Wort reden, will man Veränderung sehen. Nur wünscht man sich hier eine Verschärfung der Kriegsanstrengungen und hofft, wie etwa die Administratoren des Kanals "Nationaler Z-Kurs", auf eine Generalmobilmachung.

Kadyrow meldet sich

Ähnlich klingt das bei Ramsan Kadyrow, dem diktatorisch regierenden Oberhaupt der Teilrepublik Tschetschenien. Wenn sich in den nächsten Tagen nicht die Kriegsstrategie ändere, dann müsse er persönlich das Verteidigungsministerium kontaktieren und die Verantwortlichen über die Lage in der Ukraine aufklären, sagte dieser in einer Sprachnachricht an die Follower seines Telegram-Kanals. In dieser versprach er auch persönlich, alle verlorenen Städte zurückzuerobern.

Kadyrow hat sich zwar durch die enttäuschende Performance seiner als besonders hart geltenden tschetschenischen Kämpfer in der Ostukraine eher den Ruf eines militärischen Maulhelden erworben. Doch Kritik aus der historisch brisanten Nordkaukasus-Region kann sich Wladimir Putin für die innenpolitische Stabilität seines Systems nicht wünschen.

Die aufkeimende Kritik in Russland kommt aus unvereinbaren politischen Lagern, doch die Dynamik, mit der sie derzeit Fahrt aufnimmt, ist nicht abzustreiten. Und so musste sich schon am Dienstag auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow mit ihr auseinandersetzen. Nein, es werde keine Generalmobilmachung geben, sagte dieser und fand überraschend sanfte Worte für die lauter werdende Unzufriedenheit: "Die Öffentlichkeit ist sehr sensibel für das, was im Rahmen der Spezialoperation passiert. Deshalb ist es verständlich, dass es emotionale Reaktionen gibt." Selbst der Kreml kann Kritik nicht mehr einfach beiseitewischen. (Thomas Fritz Maier, 13.9.2022)