Lisz Hirn wägt in "Macht Politik böse?" die Voraussetzungen politischen Handelns gegeneinander ab: "Ein Bundeskanzler ohne Moralnormen ist erstaunlich."

Foto: Regine Hendrich

In ihrer neuen Streitschrift Macht Politik böse? (Leykam)liefert Philosophin Lisz Hirn einen pointierten Beitrag zur politischen Diagnostik. Die meisten Probleme würden entstehen, weil die Menschen sich – nicht nur in Zeiten der Pandemie – unnötige Illusionen machen. Im Gespräch erläutert die gebürtige Grazerin, wie man sich am demokratischen Leben beteiligen kann – ohne wutbürgerliche Anwandlungen.

STANDARD: Wäre Ihr Buch auf folgenden Nenner zu bringen: Moral bedarf der Rechtlichkeit, Recht ist hingegen auf Moralität angewiesen?

Hirn: Das Verhältnis von der Legalität zur Moralität ist immer heikel. Bundeskanzler Nehammer strich jüngst im Sommergespräch das Konzept der persönlichen ethischen Verantwortung aus seinem Programm. Jede Moral sei ein Kind ihrer Zeit! Eine solche Vorstellung halte ich für bedenklich bei jemandem, der sich selbst als christlich-sozial bezeichnet.

STANDARD: Der Regierungschef spricht nicht über moralische Normen?

Hirn: Es geht ihm um die Wahrung von Legalität. Solange die eingehalten wird, sieht der Bundeskanzler keinen Grund, sich für die Verfehlungen von Gesinnungsfreunden zu entschuldigen. Das wäre bei jedem Politiker erstaunlich, gleich welcher Couleur.

STANDARD: Gibt es Problemlösungskompetenz ohne Ideologie?

Hirn: Wenn ich jemanden wähle, wähle ich zugleich eine Haltung, eine Einstellung gegenüber der Welt. Natürlich entscheiden Aushandlungsprozesse darüber, was sein darf, was nicht. Es geht oft ums Sabotieren der Aushandlung, weil sie ineffizient ist, vielleicht aber auch, weil man nicht alle mitreden lassen will. Was ist das Leben eines in Österreich lebenden Individuums wert? Wie viel an Ressourcen können wir ihm zur Verfügung stellen? Es gibt Versuche, den Spalt zwischen Ideologie und Gesinnungsethik zu überbrücken, indem man "Ziele" verabsolutiert. Doch was wären solche Ziele? Wie weit in die Zukunft weisen sie voraus? Muss man sie angesichts von Klimakatastrophe, Migrationsproblematik et cetera nicht neu evaluieren?

STANDARD: Entspringen die Stockungen in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht einer Verwirrung der Kategorien? Das eine Mal beklagt man einen Missstand, meint aber nur die Art, wie er benannt wird …

Hirn: Die Verteilungsgerechtigkeit ist eine solche Frage. Während der Pandemie propagierte man bekanntlich ein Koste-es-was-es-wolle. Jetzt nicht mehr. Nichts wird stringent durchargumentiert, weder moralisch noch ökonomisch. Das stößt vielen Wahlbürgerinnen sauer auf.

STANDARD: In der Gesellschaft gibt es ein frei flottierendes Misstrauen?

Hirn: Das heilsam ist. Für den Griechen Solon bildeten Misstrauen und Verdacht ein Grundmoment. Welche Institutionen müssen wir einrichten, um zu verhindern, dass jemand in einen Machtrausch verfällt? Solon hielt nicht die Menschen für schlecht, er war einfach pragmatisch. Ich muss die Zivilgesellschaft von Maßnahmen überzeugen können. Wenn ich Macht an Repräsentanten abtrete, darf ich Erwartungen an sie richten. Wenn der Bundeskanzler formuliert: "Ich bin auch nur ein Mensch!", wird es schwierig.

STANDARD: Ein Kategorienfehler?

Hirn: Man muss andere Ansprüche stellen. Macht Politik böse? Selbst wohlmeinende Intellektuelle wollen heute lieber nicht an die Politik rühren, sondern, wenn nötig, Aktivismus betreiben. Man müsste den Handelnden mehr Verantwortung einräumen, diese jedoch mit mehr Anerkennung verbinden.

STANDARD: Wie ist es um die Stressresilienz unserer Gesellschaften bestellt?

Hirn: Wie reagiere ich auf Unlust? Lasse ich Stress zu? Versetzt er mich nicht auch in die Lage, Erkenntnisse zu gewinnen? Unser Diskurs tendiert stark in die Richtung: Was nicht sein darf, soll gar nicht erst erwähnt werden.

STANDARD: Verhandeln wir nicht häufig Mittelschichtsprobleme? Leben wir in einer Art Blase?

Hirn: Die Blase selbst ist elastisch. Die umgebende Flüssigkeit besteht aber aus kulturellen Kontexten, aus Geisteshaltungen. Sie sind nicht aus dem Nichts entstanden, sondern aus der Verwirklichung politischer Anliegen. Und vor allem befinden wir uns zeitgleich in mehreren Blasen, nicht bloß in einer. Ja, wir nehmen eine sehr verwöhnte Position ein. Wir erfahren aktuell, dass jede kleine Einbuße eines Privilegs wehtut: jeder Grad Celsius, den wir die Heizung herunterfahren müssen.

STANDARD: Erwarten wir zu häufig, dass die Institutionen an unserer statt tätig werden?

Hirn: Das liegt an der Überbetonung des Gesetzes. Niemand soll den Rechtsstaat ablehnen. Aber diskursiv wird vor allem gefragt, was rechtlich möglich sei. Man stellt die Frage nach den Kinderrechten, wie weit ein Kind das Recht auf einen eigenen Tod hat et cetera. Hier wird nicht die Moral eingeschaltet, sondern der gesellschaftliche Konsens. Der rechtliche Modus bindet Lehrer und Erziehungsberechtigte. So ist es auch bei den jungen Menschen: Recht und Gerechtigkeit gelangen nicht ohne weiteres zur Deckung. Doch sobald wir in legale Graubereiche vorstoßen, geht die Angst um, verklagt zu werden. "Verfehlungen" dieser Art finden Eingang in den Lebenslauf, der keine Lücken aufweisen darf, um auf dem Arbeitsmarkt etwas zu gelten. Er muss konform sein, nett, auf das Miteinander ausgerichtet. Man könnte fordern: Steht auf, engagiert euch! Man muss gleichzeitig an das Damoklesschwert der Bewertung denken.

STANDARD: Und wenn man dennoch keine Verfügung über sich wünscht?

Hirn: Das Dasein des Kynikers im Diogenes-Fass ist unmöglich geworden. Bist du Provokateur, musst du dich wenigstens in einer Galerie gut verkaufen. Das Ende der Gegenkultur wurde in den Nullerjahren manifest. Ausschlaggebend für die Verfasstheit unserer Öffentlichkeit ist Social Media. In denen geht es ums Gefallenwollen. Gefallen ist die erste Empfindung. Wirksam wird dabei der rastlose Datenverbrauch in unseren Breiten, in den gutvernetzten Gesellschaften.

STANDARD: Meint das die wechselseitige Durchdringung von Allmacht und Ohnmacht?

Hirn: Mit der Androhung des großen Stromausfalls steht und fällt unsere Kultur. Wahrscheinlich betrachten wir darum Putins Angriffskrieg viel zu oberflächlich. Er droht uns mit der Auslöschung unseres digitalen "Geworden-Seins". Er stellt uns vor die Frage, wer oder was wir noch sein wollen. Und wirft uns zugleich stammesgeschichtlich in ein früheres Stadium zurück. Indem er uns zum Beispiel fragen lässt, wie viel uns der Festmeter Holz zum Einheizen wirklich wert ist.

STANDARD: Politik macht nicht nur böse? Sie besitzt sogar eine pädagogische Komponente?

Hirn: Ein Kriegstreiber wie Putin zwingt uns zum Überdenken dessen, was seit 1991 alles passiert ist. Politik ist auch nur so "böse", wie es die Bürgerinnen und Bürger zulassen. Putin besitzt Rückhalt in Russland. Ungeachtet der Bubbles, die anders denken. (INTERVIEW: Ronald Pohl, 14.9.2022)