Bei den Rückeroberungen in der Region um Charkiw sind dutzende Siedlungen von der ukrainischen Armee befreit worden.

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Dank einer überraschend erfolgreichen Gegenoffensive ist es den ukrainischen Streitkräften gelungen, den Großteil der besetzten Gebiete im ostukrainischen Bezirk Charkiw zu befreien. Während die Russen immer noch die Region um Bachmut im Bezirk Donezk angreifen, führen die Ukrainer Offensivaktionen im Norden des Donbass sowie in der südlichen Region Cherson durch.

Doch ist das eine Wende?

Ukrainische Militärexperten sind diesbezüglich zwar optimistisch, aber noch zurückhaltend. "Es ist noch zu früh, von einer Wende zu sprechen. Aber es ist sicher der Beginn einer solchen. In zwei, drei Wochen wissen wir mehr", sagt Oleksij Melnyk, Oberstleutnant a. D. und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit am Kiewer Thinktank Zentr Rasumkowa. "Wir müssen jedoch realistisch bleiben und ganz klar davon ausgehen, dass dieser Krieg auch im nächsten Jahr weitergehen wird."

Die Erfolge im Bezirk Charkiw sind laut Melnyk großteils mit einer gut durchdachten psychologischen Operation Kiews zu erklären. "Es ist allen klar, dass die Ukrainer im Süden angreifen werden, das passiert jetzt auch. Der Militärführung ist es aber gelungen, den Eindruck zu erwecken, als ob Cherson jetzt die Hauptstoßrichtung wäre", erklärt Melnyk. Daher waren die Russen gezwungen, Kräfte in den Süden zu verlegen, was für die ukrainischen Streitkräfte gleich aus zwei Gründen vorteilhaft war.

Zum einen waren die Russen im Bezirk Charkiw dünn besetzt und etwa durch die Nationalgarde vertreten, die auf die aktiven Kampfhandlungen nicht vorbereitet ist. Zum anderen ist die Konzentrierung von 25.000 bis 30.000 Soldaten im Süden für die Russen brandgefährlich. Denn der Nachschub für die Truppen am westlichen Dnjepr-Ufer ist ohne die unter ständigem ukrainischem Beschuss stehenden Brücken extrem schwierig. "Ich glaube sogar, dass die Lage in Cherson bereits vorentschieden ist. Sie haben dort zu viele Kräfte für die aktuelle Versorgungssituation verlegt, irgendwann müssen sie das westliche Ufer verlassen", sagt Melnyk, der aber auch unterstreicht, dass die Ukrainer dann auf dieser Richtung eine Pause einlegen müssen – denn die Überquerung des Dnjepr wäre zu riskant.

Wichtige Raketenwerfer

Ähnlich sieht die Lage um Cherson auch Oleksandr Mussijenko, Chef des ukrainischen Zentrums für militärrechtliche Studien. "Die Russen versuchen, die Truppen mit Fähren zu versorgen." Doch damit würden sie nur einen Bruchteil früherer Mengen transportieren können. "Außerdem haben die Ukrainer nicht zuletzt mit Himars-Mehrfachraketenwerfern recht viele Munitionsdepots vernichtet – sowohl auf dem westlichen als auch auf dem östlichen Ufer", erklärt er. Die Rolle der westlichen Mehrfachraketenwerfer bei der Charkiw-Offensive ist laut Mussijenko enorm.

Weil die für die Russen strategisch wichtige Stadt Isjum im Bezirk Charkiw nun wieder unter ukrainischer Kontrolle steht, sind nicht nur Russlands Pläne zur Besetzung des gesamten Bezirks Donezk vom Tisch – auch der Nachschub für die Russen im Donbass wird schwieriger. Unter diesen Umständen wird viel über einen möglichen Angriff der Russen auf die südukrainische Stadt Saporischschja spekuliert. Doch obwohl Russland gerne Probleme für die ukrainische Armee an einem anderen Ort schaffen würden, halten die Militärexperten einen Angriff für unwahrscheinlich.

"Die ukrainische Verteidigung ist dort sehr gut aufgebaut. Alle bisherigen Angriffe wurden erfolgreich abgewehrt, und diese waren ernst genug", sagt Mussijenko. "Mich würde es sogar nicht überraschen, wenn die Ukrainer dort sogar Punkterfolge haben werden, denn die gesamte östliche Gruppierung der Russen ist jetzt geschwächt." Die Hauptaufgabe für die Ukraine sei aber im Moment, die kleinen Fortschritte der Russen Richtung Bachmut und Awdijiwka im Bezirk Donezk zu stoppen. Die Verschlechterung der Logistik nach der Gegenoffensive im Bezirk Charkiw könnte den Ukrainern positiv in die Hände spielen.

Harter Winter

Der russische Beschuss der kritischen Infrastruktur wie der Wärmekraftwerke in südöstlichen Regionen am Sonntagabend wird die Ukrainer unbeeindruckt lassen, betont Mussijenko zudem. "Die Vorstellungen, dass die Menschen etwa wegen der Stromausfälle gegen die Regierung protestieren würden, sind falsch. Wir wissen ja seit Tag eins, dass es zu Strom- und Wasserknappheit kommen kann, und wir wissen auch, wer daran schuld ist."

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) warnte indessen, dass durch die Ausfälle der Winter – vor allem für die 6,9 Millionen Binnenflüchtlinge – noch härter als befürchtet werde. (Denis Trubetskoy aus Kiew, 13.9.2022)