Lange war das Credo klar: Viertürer-Modelle sind nicht Teil des Ferrari-Erbes. Wer einen Viertürer wollte, wurde bei der Schwestermarke Maserati fündig, die seit Anfang der 60er-Jahre den Quattroporte im Programm hat. Doch die Zeiten haben sich selbst in Maranello geändert.

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Die Kommandozentrale des neuen Ferrari Purosangue lädt zum Wischen ein.

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Nach Jahren voller Erwartungen und Spekulationen hat man nun in Maranello das jüngste Pferd aus dem Stall gelassen: Mit dem Ferrari Purosangue wagte man sich in der Sportwagenschmiede zugleich auf völlig neues Terrain – und stellt nun wohl so manch eingefleischte Ferraristi vor eine fast lebensentscheidende Frage: Wie familientauglich muss, ja darf ein roter Bolide sein, um noch als echter Ferrari durchzugehen?

Vier gewinnt

Beim stromlinienförmigen "Vollblut"- Allradler in Rot hat man zunächst nämlich einmal hinsichtlich der Zustiegsmöglichkeiten eine deutlich größere Auswahl als bisher: Erstmals in der 75-jährigen Geschichte des Unternehmens entschied man sich nämlich für einen klassischen Viertürer. Verbaut wurden zwei hinten angeschlagene Türen, die voll elektrisch den Weg ins luxuriöse Innere ebnen. Und was vier Türen hat, hat am Automobilsektor meist auch vier Sitze.

Foto: Ferrari

Vorbei sind also die Zeiten, in denen man sich als rückseitiger Ferrari-Fahrgast auf maximal einen Notsitz quetschen durfte. Beim Purosangue pflanzt man das Hinterteil auf einen der vier mit feinstem Leder bezogenen, elektrisch beheizbaren Sitze. Versprochen wird diesbezüglich absoluter Sitzkomfort in jeder Position – wobei beim Praxistest im hinteren Bereich doch schnell eine gewisse Enge in alle Richtung spürbar wird. Die Beinfreiheit für den Hintermann hängt entscheidend von der Größe und Sitzposition von Fahrer und Beifahrer ab. Und nach oben ist ab einer gewissen Körpergröße wenig Luft. Da kann schon manche Bodenwelle zum Härtetest zwischen Schädeldecke und Karbonfaserdach führen.

Aktiver Beifahrer

Fahrer- und beifahrerseitig werden sich im Innenraum wohl auch wieder die Geister scheiden. Den F40-Jüngern, die nicht mehr als die Dreifaltigkeit aus Gaspedal, Schaltknüppel und Sportlenkrad brauchen, wird wohl angesichts der massiv verbauten Wisch-und-weg-Technik das Geimpfte aufgehen. Das Fahrer-Cockpit ist jedenfalls vom SF90 Stradale inspiriert und wird fast eins zu eins auf der Beifahrerseite gespiegelt. Geschaffen werden soll damit eine "emotionale Einbindung" des Beifahrers. Unterstützt durch ein 10,2-Zoll-Display, das alle erforderlichen Informationen liefert, um den Beifahrer am Fahrerlebnis teilhaben zu lassen.

V12-Sauger

Wobei eine lethargische Schnarchnase auf dem Beifahrersitz wohl lange schon vor dem ersten Blick aufs Display munter wird. Spätestens wenn die 12er-Orgel ertönt, steigt der Puls – egal auf welchem der vier Sitze. Unter der langen Haube hat ein V12-Saugmotor, der als Front-Mittelmotor angelegt ist, seine Bestimmung gefunden. 725 PS bringt man so geschmeidig auf die Straße – beindruckender Ferrari-Sound garantiert. In 3,3 Sekunden von 0 auf 100 km/h und in 10,6 Sekunden von 0 auf 200 km/h. Die Kinder im Heck werden beim Familienausflug jubilieren. Oder in null Komma nichts zum Speibsackerl greifen.

Enzos Toleranz

Auch wenn alleine schon das Design, der Radstand liegt bei überschaubaren 3.018 mm, jedem Skeptiker ein "Sagen Sie niemals SUV" entgegenschmettert, drängt sich doch die Frage auf, ob es Ferrari nun nicht doch Lamborghini oder Aston Martin gleichgetan hat und einen schnittigen Luxus-Offroader (390.000 Euro laut italienischer Preisliste) – der übrigens künftig maximal 20 Prozent des gesamten Verkaufsvolumens ausmachen soll – geschaffen hat. Doch da versteht man in Maranello keinen Spaß. "It's a Ferrari Sportscar", stellt Chefdesigner Flavio Manzoni klar. "You can use it offroad – but it's not a Jeep." Und auf die Nachfrage, ob sich Enzo Ferrari angesichts des Familien-Ferraris nicht schon dreimal im Grab umgedreht hat, folgt das mildeste aller italienischen Lächeln: "He would love this car." (Markus Rohrhofer, 13.09.2022)