Italiens Exekutive geht dieser Tage wieder konzentriert gegen das organisierte Verbrechen vor, und die erste Großrazzia war auch gleich die erfolgreichste: In der Provinz Cosenza in der süditalienischen Region Kalabrien nahmen die Carabinieri am 1. September 202 mutmaßliche Mitglieder und Helfer der 'Ndrangheta, des kalabrischen Zweigs der Mafia, fest oder verhängten einen Hausarrest über sie. Wie bei Anti-Mafia-Aktionen üblich, befanden sich unter den Festgenommenen auch Lokalpolitiker und Unternehmer. Den Verhafteten werden Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung, Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Wettbetrug und Geldwäsche vorgeworfen.

Die 'Ndrangheta gilt als die gefährlichste und mächtigste Mafia-Organisation Italiens und versorgt dank ihrer Verbindungen zu den südamerikanischen Drogenkartellen halb Europa etwa mit Kokain. Ihr Jahresumsatz wird von der italienischen Anti-Mafia-Direktion auf 50 bis 60 Milliarden Euro jährlich geschätzt.

Von Anfang 2016 bis Ende Juni 2022 haben die Spezialeinheiten der Carabinieri 4.371 mutmaßliche Mafiosi verhaftet.
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Am gleichen Tag schlug die Polizei auch tausend Kilometer weiter nördlich zu: Im Raum Bergamo (Region Lombardei) wurden weitere 30 Personen festgenommen, die ebenfalls der 'Ndrangheta angehören sollen. Norditalien dient den Clans – wie übrigens auch Deutschland, die Schweiz und Österreich, wo die Mafia ebenfalls längst ihre Ableger hat – in erster Linie als Plattform für Geldwäsche.

In Bergamo werden gleich mehrere Unternehmer verdächtigt, über ihre Firmen Geld aus kriminellen Aktivitäten gewaschen zu haben. Involviert sind offenbar auch einige Buchhalter und ein Angestellter der Steuerbehörde. In der sizilianischen Hafenstadt Trapani haben die Anti-Mafia-Einheiten ebenfalls eine Razzia durchgeführt. Dabei sind dutzende mutmaßliche Mitglieder der sizilianischen Cosa Nostra festgenommen worden.

Rund 700 Verhaftungen pro Jahr, ...

Die kurze Abfolge der Großeinsätze sei zufällig, erklärte ein Mafia-Experte des Justizministeriums auf Nachfrage. Tatsächlich ist die staatliche Repression gegen die Clans nie erlahmt, wie ein Blick in die Statistik zeigt: Von Anfang 2016 bis Ende Juni 2022 (die jüngsten Verhaftungen sind in den Zahlen also noch nicht berücksichtigt) haben die Spezialeinheiten der Carabinieri 4.371 mutmaßliche Mafiosi verhaftet – 1.260 Mitglieder der 'Ndrangheta, 1.220 Mitglieder der Cosa Nostra, 1.054 Mitglieder der neapolitanischen Camorra sowie 478 Mitglieder der Sacra Corona Unita in Apulien. Das bedeutet, dass in Italien in den letzten sechseinhalb Jahren im Durchschnitt jeden Tag zwei mutmaßliche Mafiosi hinter Gitter wanderten – rund 700 jedes Jahr.

Da sich die Ermittlungen fast immer gegen "mafiöse Vereinigungen" richten, liegt es in der Natur der Sache, dass bei einer einzelnen Razzia jeweils dutzende, nicht selten sogar mehr als 100 Personen festgenommen werden. Das Problem: Die Anklagen der Anti-Mafia-Staatsanwälte verflüchtigen sich in den anschließenden Prozessen immer häufiger zu bloßen Verdächtigungen.

Das heißt: Zahlreiche der vermeintlichen Mafiosi sind vielleicht gar keine – sie werden mangels Beweisen freigesprochen, oder das Verfahren wird eingestellt. Dasselbe droht in großem Ausmaß auch in dem gerade laufenden "Jahrhundertprozess" gegen die 'Ndrangheta in Lamezia Terme in Kalabrien, wo über 400 Angeklagte vor dem Richter stehen. Nach zweieinhalb Jahren Prozessdauer sind bisher nur 70 von ihnen schuldig gesprochen worden.

... aber nur wenige Verurteilungen

Dies hängt auch mit einem Urteil des Kassationsgerichtshofs zusammen, der die Voraussetzungen für die Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung – das Mafia-Delikt schlechthin – strenger formuliert hat. Vereinfacht gesagt: Für eine Verurteilung reicht es nicht mehr, dass ein Verdächtigter mit einem Mafia-Clan enge Kontakte pflegt. Die Ermittlungsbehörden müssen ihm auch handfeste kriminelle Machenschaften oder konkrete Hilfestellung für die Clans nachweisen können.

Das folgenreiche Urteil erging im Rahmen eines Verfahrens gegen zwei Mitglieder eines Schweizer Ablegers der 'Ndrangheta: Sie waren von der Polizei dabei abgehört worden, wie sie am Telefon mit ihrer Mafia-Familie in Kalabrien über Drogen- und Waffengeschäfte diskutiert hatten.

Bei Hausdurchsuchungen am Schweizer Wohnort der beiden Männer fanden die Ermittler aber jeweils kein Gramm Kokain und auch keine Schusswaffen oder Munition. Trotzdem wurden sie in Italien wegen Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung zunächst zu langjährigen Haftstrafen verurteilt – ein Urteil, das der Kassationsgerichtshof aufhob und in Freisprüche umwandelte.

Der Straftatbestand der mafiösen Vereinigung war, zusammen mit einer Kronzeugenregelung für die Mafia-Aussteiger, jahrzehntelang die Wunderwaffe der italienischen Justiz bei der Bekämpfung der Clans gewesen – aber unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit auch immer ziemlich umstritten. (Dominik Straub, 14.9.2022)