Die Abschaffung der kalten Progression ist Teil des Entlastungspakets der Regierung.

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Das Ende der kalten Progression, wie es am Mittwoch im Ministerrat beschlossen wurde, erntet neben Lob auch Kritik. Es handle sich dabei um keine wirkliche Abschaffung, auch die Entlastung bekämen nicht alle Steuerzahlenden in voller Höhe.

Von einer "Mogelpackung" spricht daher Gerald Loacker, Wirtschafts- und Sozialsprecher der Neos. Er kritisiert einerseits, dass die Entlastung erst im kommenden Jahr wirksam werde und die Menschen jetzt, wo die Inflation steigt und die Kosten für die Energie hoch sind, nicht unmittelbar profitieren. Zudem missfällt ihm, dass die Regierung über ein Drittel verfügen kann.

Für 2023 wird dieses Drittel – es geht um rund 617 Millionen Euro – dafür verwendet, die beiden unteren Tarifstufen (also Einkommen bis 19.134 Euro) ein Stück mehr zu entlasten. "Das ist nichts anderes als eine Teilzeitförderung", kritisiert Loacker: weil jene, die in Teilzeit arbeiten, durch die Erhöhung der Tarifstufen noch länger in eine günstigere Steuerklasse fallen würden.

"Massive Fehlanreize"

Der Anreiz, in Vollzeit zu gehen, sei damit nicht gegeben. "Schon jetzt gibt es massive Fehlanreize im Sozialversicherungs- und Steuersystem mit dem Ergebnis, dass es sich für viele nicht mehr auszahlt, Vollzeit zu arbeiten", sagt Loacker. Das verschärfe den derzeitigen eklatanten Arbeitskräftemangel. Fast 40 Prozent der Erwerbstätigen zahlen laut Loacker derzeit keine Steuern, weil sie dafür zu wenig verdienen. Weil die unteren beiden Tarifstufen höher angehoben wurden als die anderen, werde die Steuerlast damit auf noch weniger Menschen verteilt – dort werde die Unzufriedenheit zunehmen.

Das Gesetz zur Reform der Steuertarife sei laut Loacker aber nicht nichts. Ein durchschnittlicher Angestellter werde mit dem neuen Steuertarifsystem letztlich aber nicht bessergestellt, als dies der Fall wäre, wenn die Inflation deutlich niedriger wäre. Nehme man jemandem 100 Euro weg und gebe ihm 67 Euro zurück, dann sei das laut Loacker besser, als würde der Betroffene nichts mehr zurückbekommen. Aber es bleibe ein Drittel, das nicht zurückfließt.

Späte Abfederung

Die Durchschnittsverdiener blieben damit auf einem Teil der Inflation – die ja nun jährlich als Grundlage für die Anpassung der Indexstufen herangezogen wird – sitzen. Volle Wirkung werde die beschlossene Abfederung zudem erst in den kommenden Jahren zeigen. Besser fände es der Neos-Experte, wenn alle Tarifstufen der jährlichen Jahresinflation angepasst würden. "Das wäre eine Vollindexierung und nicht nur eine Zweidrittelanpassung und damit die echte Abschaffung der kalten Progression", fasst Loacker zusammen.

Dass der Steuerzahler mit den jetzigen Änderungen nicht zu 100 Prozent entlastet wird und der Staat ein Drittel behält, das er frei vergeben hat, kritisiert auch Erwin Angerer, Wirtschaftssprecher der FPÖ. Er regt zudem an, dass die Abschaffung der kalten Progression bereits rückwirkend mit 1. Jänner 2022 wirken sollte, damit die Bevölkerung früher und stärker entlastet werde.

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Dass die unteren Tarifstufen stärker begünstigt werden, ist für Werner Doralt, emeritierter Professor für Finanzrecht, hingegen in Ordnung. "Es ist sozial gerechtfertigt, wenn man die unteren Einkommensstufen mehr berücksichtigt als die Bestverdiener", sagt Doralt – weil Gutverdiener von Preisveränderungen weniger stark betroffen seien als Geringverdiener. Zudem entspreche das auch der "Tradition bisheriger Steuerreformen, bei der untere Einkommensstufen immer mehr bekommen hätten als die oberen", sagt der Experte.

Festschreibung kostet Spielraum

Doralt kritisiert hingegen die Festschreibung des Modells, weil das "künftige Regierungen in ihrem Gestaltungsspielraum einschränkt". Eine spätere Regierung werde sich schwertun, das Modell wieder umzukehren. Bleibe den Menschen nach einer Tarifreform weniger als vorher, sei das politisch kaum durchsetzbar. Es werde durch den Wegfall der Steuereinnahmen (bis 2026 soll den Menschen 20 Milliarden Euro mehr bleiben, das fehlt freilich im Budget) aber Reserven fehlen, um andere Reformen – etwa bei der Pendlerpauschale – anzugehen, sagt Doralt.

Absetzbeträge zählen auch

Vergessen werden dürfe aber nicht, "dass jetzt auch die Absetzbeträge, etwa für Alleinerzieher, Unterhaltszahlungen oder Verkehrsabsetzbeträge, angehoben werden", sagt Reinhard Rindler, Partner beim Wirtschaftsprüfer BDO und Leiter des internationalen Steuer-Teams. Diese Valorisierung erfolge über alle Steuerstufen hinweg in gleichem Ausmaß. Diese Posten wurden teils jahrelang nicht angepasst und waren bisher nicht immer Teil einer jeden Steuerreform. Dass die Tarifstufen künftig der Inflation angepasst werden (siehe Grafik) sieht der Steuerexperte positiv: "Das ist eine zeitnahe Weitergabe der Steuer auf Gehaltsanpassungen", sagt Rindler.

Die neuen Tarifstufen gelten ab 1. Jänner 2023. Ein Rechner des Finanzministeriums zeigt, wie stark man davon profitieren wird. (Bettina Pfluger, 15.9.2022)