Der Spitzenkandidat der Tiroler Grünen, Gebi Mair, erklärt, warum seine Partei als Koalitionspartner der ÖVP nicht alle Wahlversprechen einlösen konnte.

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Innsbruck – Nach neun Jahren Koalition mit der ÖVP sind die Tiroler Grünen angeschlagen, wollen aber wieder mitregieren. Spitzenkandidat Gebi Mair will Energielandesrat sein und verspricht, mehr politische Steuerung der Tiwag. Doch grüne Wahlversprechen haben in Tirol ein Glaubwürdigkeitsproblem, was Mair mit Sachzwängen und Koalitionsräson erklärt.

STANDARD: Wie sinnvoll ist es für eine Partei, als weitaus kleinerer Partner an einer Koalitionsregierung teilzunehmen? Den Grünen haben zwei Legislaturperioden als Juniorpartner der Tiroler ÖVP nicht unbedingt gutgetan, man wirft ihnen vor, ihre Versprechen gebrochen zu haben.

Mair: Es sind tatsächlich viele schwierige Entscheidungen, die man in dieser Konstellation aus Verantwortung für ein größeres Ganzes mitträgt. Das ist nicht sehr lustig, wenn ich etwa an die Entscheidungen im Zuge der Corona-Pandemie denke und man dann im Fernsehen zuschauen muss, wenn der Kollege Landesrat erklärt, Tirol habe alles richtig gemacht. Aber ich glaube, dass die Grünen im Zuge dieser Regierungsbeteiligung wesentlich mehr als nur die 10,5 Prozent Einfluss, die uns die Wählerinnen und Wähler zugesprochen haben, in diesem Land ausgeübt haben. Es wird sicher leichter, wenn die ÖVP – wovon nach den Umfragen auszugehen ist – ihre Dominanz in diesem Land verliert und wir dagegen relativ wie auch absolut gestärkt aus der Wahl hervorgehen würden. Eine Modernisierung in der Tiroler Parteienlandschaft ist überfällig, davon zeugen auch die aktuellen Probleme rund um die zu Unrecht bezogenen Corona-Förderungen der Jungbauernschaft.

STANDARD: In den vergangenen neun Jahren haben die Grünen das aber nicht so klar benannt?

Mair: Nun ja, Freude hat es mir keine bereitet, wenn man sich selbst oft denkt, ich hätte das gern komplett anders oder deutlich entschlossener gehabt. Was mich von der bisherigen Linie der Grünen in der Koalition unterscheidet, ist, dass ich bekannt dafür bin, solche Dinge auch zu benennen. Also zu sagen, wir hätten das jetzt gern anders gehabt, aber es geht nicht, aus diesem und jenem Grund. Wir tragen es aber trotzdem mit. So eine Transparenz würde helfen zu erklären, warum man nicht alles durchbekommt.

STANDARD: Gemäß den Umfragen stagnieren die Tiroler Grünen bei rund zehn Prozent. Würden Sie das als Zeichen werten, dass die grüne Stammwählerschaft durchaus zufrieden mit der Regierungsarbeit ist?

Mair: Aus eigenen Umfragen wissen wir, dass unsere potenziellen Wählerinnen und Wähler zum überwiegenden Teil befürworten, dass wir in der Regierung sind. Wobei sie es offen sehen, mit welcher Partei, das muss nicht die ÖVP sein. Das deckt sich mit unserer Parteilinie. Aber es gibt auch kritische Rückmeldungen, dass wir mehr umsetzen hätten sollen. Das muss man nicht schönreden. Aber ich denke, das betrifft derzeit alle Parteien, weil die Menschen angesichts der aktuellen Herausforderungen von der Politik mehr Lösungen erwarten. Die würde ich auch gerne liefern, wo ich es kann. Aber gegenüber großen Entwicklungen sind wir oft auch ohnmächtig.

STANDARD: Sie haben bereits angekündigt, im Falle einer erneuten Regierungsbeteiligung, Energielandesrat werden zu wollen. Halten Sie es für realistisch, dass die Grünen nach der Wahl das Pouvoir haben werden, solche Forderungen zu stellen?

Mair: Ja, für sehr realistisch. Denn wenn die Grünen die Verantwortung für die Tiwag (Landesenergieversorger, Anm.) gehabt hätten, würden heute nicht 3.000 Menschen in Tirol darauf warten, dass sie ihre Photovoltaikanlage endlich anschließen können.

STANDARD: Die Grünen sind ja Teil der Landesregierung, haben Sie dieses Problem gegenüber der ÖVP nicht vorher schon angesprochen?

Mair: Selbstverständlich.

STANDARD: Und warum ist nichts passiert?

Mair: Es gibt verschiedene, mich nicht überzeugende Erklärungen, warum das schwierig sei. Ich kann das nicht nachvollziehen, denn es ist klar Aufgabe der Politik, solche Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen. Da muss man Vorgaben an die Landesunternehmen machen, wenn die das nicht selbst erkennen.

STANDARD: Also hatten die Grünen nicht genug Einfluss, um sich durchzusetzen?

Mair: Es gibt eine gewisse Zurückhaltung in der Politik, Landesunternehmen klare Vorgaben zu machen. Ich sehe das anders, die Politik muss steuern. Nur weil etwas in eine Aktiengesellschaft ausgegliedert ist, darf die Politik sich nicht zurückziehen, es fehlt die politische Steuerung.

STANDARD: Als Energielandesrat würden Sie sich also mehr in das operative Geschäft der Tiwag einmischen?

Mair: Ja, es braucht strategische Vorgaben. Es gibt einen Eigentümervertreter des Landes in der Gesellschafterversammlung der Tiwag, das war zuletzt Landeshauptmann Günther Platter. Dieser Vertreter hat solche Vorgaben zu machen, und das würde ich auch tun.

STANDARD: Sie haben im Wahlkampf mehrmals betont, dass dort, wo die Grünen zuständig waren und gestalten konnten, viel Positives passiert sei, etwa beim öffentlichen Verkehr. Nun fiel auch der Transit in die Zuständigkeit der Grünen, und Ihr Wahlversprechen lautete 2018, den Transitverkehr zu halbieren. Er ist seither aber sogar gestiegen.

Mair: Es gibt klare Zuständigkeiten, der Verkehrsverbund lag im Bereich von Landeshauptmannstellvertreterin Ingrid Felipe, und da ist wirklich viel weitergegangen – preislich und beim Angebot. Die europäische Verkehrspolitik ist wiederum eine geteilte Zuständigkeit. Der Landeshauptmann ist in der mittelbaren Bundesverwaltung für die Fahrverbote auf der Autobahn zuständig. Das soll jetzt keine Ausrede sein, aber es ist eine komplexe Materie mit einer sehr starken europäischen Komponente. Die Wegekostenrichtlinie wurde im EU-Parlament abgelehnt. Wir haben im Land dafür das Dosiersystem eingeführt und 2013 den Lufthunderter. Und wir haben die Mittel für Lärmschutz verdoppelt. Also man sieht, es geht was, aber es hat noch nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Das ist unbefriedigend und ärgert mich persönlich am meisten.

STANDARD: Aber war dieses Versprechen, den Transit zu halbieren, nicht von vornherein utopisch?

Mair: Als Ziel finde ich das nach wie vor richtig, und alle darauf einzuschwören ist wichtig. Aber das reicht natürlich nicht aus. Es gibt in Tirol sehr viel Einigkeit beim Thema Transit, und dass es diese Halbierung als politisches Ziel gibt, halte ich für richtig. Daher will ich an dieser Vision festhalten.

STANDARD: Die Grünen lehnen das Pumpspeicherkraftwerk Kaunertal-Platzertal ab. Nun hat sich die öffentliche Meinung gegenüber Kraftwerksprojekten im Zuge der Energiedebatte verändert. Bleiben die Grünen bei ihrer ablehnenden Haltung?

Mair: Ich bin überhaupt nicht gegen Pumpspeicherkraftwerke. Es ist auch möglich, solche Kraftwerke ohne großen Bodenverbrauch zu realisieren, etwas als Kavernenkraftwerk. Wir brauchen Pumpspeicher als Ausgleich im Zusammenhang mit neuen Energiequellen. Wir haben in Tirol in den vergangenen neun Jahren 96 Kraftwerke mit insgesamt einer Terawattstunde Jahresleistung genehmigt, so viel wie seit 40 Jahren nicht. Auch beim 1,6-Milliarden-Euro-Projekt Sellrain-Silz ist, unter großen Schmerzen der Grünen, viel weitergegangen. Und ich halte das für richtig. Zugleich ist es unsere Aufgabe, Mittel sparsam und umweltverträglich einzusetzen. Und es ist so, dass viele der noch in Planung befindlichen Projekte nicht mehr zeitgemäß sind. Da muss die Politik evaluieren, ob mit demselben Mitteleinsatz nicht etwas Besseres schneller möglich wäre.

STANDARD: Sie haben im April versprochen, dass es noch vor der Wahl ein neues Schutzgebiet in Tirol geben werde. Was wurde aus diesem Versprechen?

Mair: Ja, es wird ein weiteres Schutzgebiet geben, und derzeit läuft dazu ein guter Prozess mit den beteiligten Gemeinden. Zu den schmerzhaften Lernprozessen in der Politik zählt allerdings, dass Dinge oft nicht so schnell passieren, wie man das gern hätte. Ich hätte das Schutzgebiet sehr gern noch vor dem 25. September gehabt, und ich denke, der Prozess ist bereits so weit fortgeschritten, dass er nicht mehr umkehrbar ist. Das Problem ist nur, wenn man öffentlich darüber spricht, gefährdet das diesen Prozess. Ein echtes Dilemma.

STANDARD: Warum haben Sie dann dieses Versprechen abgegeben?

Mair: Ja, das war mutig, und es ist politisch mit dem Koalitionspartner vereinbart, und der behauptet auch, dazu zu stehen. Aber das gehört zu den schmerzhaften Dingen in der Politik, dass manches viel länger dauert und man nicht darüber sprechen kann, ohne es zu gefährden.

STANDARD: Sie wollen also nicht sagen, wo dieses Schutzgebiet kommen soll?

Mair: Das würde dem Vorhaben schaden, fürchte ich. Aber es gibt zwei sehr geeignete Gebiete für dieses Vorhaben, so viel kann ich sagen. Das ist das Forchet in Haiming sowie das Gebiet zwischen Glungezer und Gilfert. An beiden wird gearbeitet.

STANDARD: Die Grünen regieren im Bund und im Land mit. Dabei tragen sie immer wieder Entscheidungen des Koalitionspartners mit, die für ihre Klientel schwer nachvollziehbar sind – etwa Abschiebungen von Kindern, die Haltung gegenüber den Flüchtlingslagern in Moria oder auf Landesebene Entscheidungen zu Skigebieten oder Ähnlichem. Wo liegt für Sie die Grenze, wie kompromiss- und leidensfähig muss man als Partner der ÖVP sein?

Mair: Ich möchte das gern am jeweiligen Einzelfall beurteilen. Etwa das Beispiel Natura-2000-Schutzgebiet an der Isel. Soll man nur einen Teil unter Schutz stellen oder, wie es eigentlich richtig wäre, auf dem Schutz der gesamten Fläche bestehen und riskieren, dass es dann nicht passiert? Da fragt man sich im Nachhinein oft: Wäre es richtiger gewesen, auf den großen Schritt zu pokern, statt dem kleinen Kompromiss zuzustimmen? Das ist leider vorab oft schwer zu sagen. Viele Menschen fragen sich, ob sie den Versprechen der Politik glauben können. Und die ehrliche Antwort darauf wäre: Ich kann versprechen, dass ich mich dafür einsetzen werde. Wir sind keine Diktatur, sondern eine Demokratie. Niemand kann vorab garantieren, dass etwas so passieren wird, wie man es verspricht. Wir Grünen haben mit der Sonnenenergie-Milliarde, dem Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung und dem Antikorruptionspaket drei Bedingungen für eine Koalitionsbeteiligung gestellt. Ob andere darauf eingehen, können wir heute nicht sagen.

STANDARD: Die Grünen betonen stets, dass ihre Regierungsbeteiligung zumindest dafür gesorgt habe, Schlimmeres verhindert zu haben. Können Sie konkrete Beispiele nennen aus den vergangenen neun Jahren, wo die Grünen etwas verhindert haben, das die ÖVP sonst mit einem anderen Koalitionspartner durchgesetzt hätte?

Mair: Ich verstehe die Frage, aber sie zu beantworten ist wahnsinnig gefährlich. Wir haben als Grüne viele Projekte in dieser Landesregierung verhindert, aber es ist schwer, darüber zu sprechen, weil sie ja nie realisiert wurden. Es gibt immer wieder Dinge, wo man sich denkt: Da habe ich nun mehr herausgeholt, als der Koalitionspartner eigentlich zulassen wollte. Aber sobald ich das öffentlich ausspreche, wird es nie wieder passieren. Über die Dinge, die dank uns Grünen entstanden sind – wie das Motorradlärm-Fahrverbot im Außerfern oder die Leerstandsabgabe –, zu sprechen ist wesentlich einfacher.

STANDARD: Noch eine Frage zur Corona-Pandemie. Hätten sich die Grünen in der Zeit als Korrektiv nicht mehr einbringen sollen? Warum ist das nicht passiert?

Mair: Einerseits wegen der mittelbaren Bundesverwaltung und andererseits wegen der grünen Verantwortung. Die Pandemiebekämpfung in den Ländern ist wegen der mittelbaren Bundesverwaltung Aufgabe des Landeshauptmanns, da kann die Landesregierung nicht viel machen. Und in einer Krise ist es wichtig, dass klar kommuniziert wird, sonst kennt sich niemand mehr aus. Wir haben uns aus Verantwortung in dieser Situation zurückgenommen. Man hätte natürlich auch alles daran setzen können, als Partei in die Zeitung zu kommen. Aber das sahen wir nicht als den richtigen Weg.

STANDARD: Nun hat Tirol in der Pandemie mehrfach für negative Schlagzeilen gesorgt. Wäre es da nicht richtig gewesen, als Regierungspartner die kritische Stimme zu sein?

Mair: Ich kann garantieren, dass wir uns intern mehrfach sehr kritisch zu Wort gemeldet haben. Vieles hätte smarter organisiert werden können, und ich denke, ich würde es mit heutigem Wissen prononcierter anlegen. Aber man muss auch dazusagen, dass wir damals davon ausgegangen sind, dass das nun nun sechs harte Wochen werden. Es wurden letztlich zwei Jahre, und es ist noch nicht vorbei. So eine Krise ist für alle eine enorme Belastung.

STANDARD: Sind auch die Tiroler Grünen in einer Krise? Alle weiblichen Führungspersönlichkeiten – Ingrid Felipe, Gabriele Fischer und Stephanie Jicha – treten ab. Es gab einen internen Vorwahlkampf, in dem Sie sich durchsetzen konnten. Das wirkt nicht sehr harmonisch.

Mair: Wir hatten in den vergangenen neun Jahren drei starke Frauen als Regierungsmitglieder. Es gibt in keiner Partei in Tirol einen derart demokratischen internen Vorwahlprozess. Eine solche Wahl zu verlieren ist immer auch eine persönliche Niederlage. Und hätte ich diese interne Wahl verloren, wäre ich auch nicht mehr bei der Landtagswahl angetreten. Dass Ingrid Felipe nach all den Jahren in Regierungsverantwortung gesagt hat, sie will nicht erneut kandidieren, verstehe ich. Wir sind und bleiben eine feministische Partei, deshalb auch das Spitzenduo mit Petra Wohlfahrtstätter und mir. Übrigens bin ich der erste offen schwule Mann, der in Österreich eine Partei in eine Landtagswahl führt. (Steffen Arora, 15.9.2022)