Automation durch Roboter ist eines der Gebiete, in die China Milliarden investiert hat.

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Eduardo Morcillo, Berater und Investmentbanker, bleibt vom Pragmatismus der Chinesen überzeugt.

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Mit China glaubt der russische Präsident Wladimir Putin einen Verbündeten gefunden zu haben, dessen wirtschaftliche Stärke Europa und den Westen ersetzen kann. Aber während Chinas Präsident Xi Jinping mit großem Selbstbewusstsein auf seiner ersten Auslandsreise seit Jahren durch Zentralasien fährt, steht plötzlich die Stärke der chinesischen Wirtschaft auf dem Prüfstand.

Die schlechten Nachrichten haben sich zuletzt gehäuft: Das jahrzehntelang rasante Wachstum wird heuer rund drei Prozent betragen, möglicherweise noch weniger; die strikten Corona-Lockdowns in Schanghai und anderen Großstädten haben das wirtschaftliche Leben zeitweise lahmgelegt und enormen Schaden angerichtet; der Immobilienmarkt steckt in einer tiefen Krise, die auch das ohnehin wackelige Bankwesen schwer belastet.

Mit der Sorge über Chinas aggressive Politik im Westen wachsen auch die Handelshemmnisse und erschweren es China, seine so erfolgreiche Exportstrategie fortzusetzen. Durch die niedrige Geburtenrate droht das Land zu vergreisen, noch bevor es beim Pro-Kopf-Einkommen zu den westlichen Industriestaaten aufgeschlossen hat. Und über allem steht ein Präsident, dem Ideologie und politische Kontrolle wichtiger sind als erfolgreiches Unternehmertum.

Nicht das Ende der Erfolgsstory

Das wirtschaftliche Erfolgsmodell der letzten 20 Jahre ist tot, sagt China-Experte Eduardo Morcillo, aber das müsse nicht das Ende der chinesischen Erfolgsstory sein. Denn in den vergangenen Jahren habe das Land neue Stärken entwickelt, mit denen es in den kommenden Jahren weiter wachsen will, wenn auch nicht so rasch wie einst, sagt der Managing Partner der Beratungs- und Investmentgesellschaft Interchina im STANDARD-Gespräch. "Nach Jahren der Milliardeninvestitionen in unproduktive Industrien, vor allem nach der Weltfinanzkrise, investiert Chinas Führung jetzt in die Erhöhung der Produktivität, in Märkte und Technologien, die es noch gar nicht gibt. Chinas Führung ist überzeugt, dass sie einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Rest der Welt hat: die hervorragende Infrastruktur, wo China ein Jahrzehnt Vorsprung hat, und die Nutzung von Daten."

In praktisch jedem chinesischen Dorf gebe es ein 5G-Netzwerk, und 95 Prozent der Bevölkerung seien über ihre Smartphones aktive Datennutzer. Die Regierung sammle diese und habe damit uneingeschränkten Zugriff auf den wichtigsten Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Morcillo: "Das wird der Treiber für Chinas Wirtschaft bis zum Jahr 2040." Und Chinas Mittelschicht, die bereits 300 Millionen Menschen umfasst, werde bis 2030 auf rund 500 Millionen wachsen, die größte in der Welt, und mit ihrer Nachfrage die Wirtschaft am Laufen halten.

Verschuldung abgebaut

Unter Xi sei einiges geschehen, um frühere Fehler zu korrigieren, sagt der gebürtige Spanier, der seit mehr als 20 Jahren mit China arbeitet. Die staatliche und private Verschuldung, die vor allem nach 2008 massiv gewachsen ist, sei abgebaut worden und sei auch in der Pandemie nicht wieder gestiegen. "China ist die einzige große Volkswirtschaft, die kein staatliches Ausgabenprogramm wegen Corona finanziert hat", sagt Morcillo.

Die anderen Säulen der neuen chinesischen Wirtschaftsstrategie seien grüne Technologie, vor allem erneuerbare Energien und E-Mobilität, künstliche Intelligenz und Automatisierung. Dank hervorragender Universitäten und hoher Forschungsausgaben habe China auch auf diesen Gebieten gute Chancen.

Marktführer in 100 Kategorien

Morcillo rechnet trotz aller Handelskonflikte mit dem Westen nicht mit massiven Verlusten in den Exportmärkten. China sei einer der drei führenden Handelspartner für 90 Prozent aller Staaten in der Welt und globaler Marktführer in mehr als 100 Kategorien. "Diese Lieferketten lassen sich nicht anderswo aufbauen", sagt er. "Auf China zu verzichten würde die Länder viel zu viel kosten. In einer Zeit der Inflation ist eine Entkoppelung von China das Letzte, was man sich wünscht."

Ein tiefgreifendes Problem sei der drohende Bevölkerungsrückgang, den Peking trotz aller Bemühungen nicht bremsen könne. Und auch die Rückkehr einer von postmaoistischer Ideologie getriebenen Politik unter Xi sei ein Risikofaktor, wie sich etwa in den Corona-Lockdowns gezeigt habe, sagt Morcillo. "Aus ideologischen Gründen werden Entscheidungen gefällt, die das Wachstum schwächen. Aber es gibt eine Kraft, die dagegen wirkt: den ausgeprägten Pragmatismus der Chinesen." (Eric Frey, 15.9.2022)