Juri Andruchowytsch ist zurzeit in Polen und Deutschland unterwegs. Lesungen und Diskussionen stehen auf dem Programm. Gerade ist der neue Roman des ukrainischen Schriftstellers erschienen. Radio Nacht heißt das Buch, das eine wild-fantastische Geschichte um den "Barrikadenpianisten" Josip Rotsky entspinnt, in der es um Revolutionen, Sex und Diktaturen geht, um Isolation, Verrat und Unabhängigkeit. Es ist ein vor Ideen sprühendes, berauschendes, karnevaleskes und episches Weltentheater, das Andruchowytsch da entfacht, bei dem vor allem aber die Musik und die Kunst im Vordergrund stehen – und das, was sie zu bewegen vermögen. In seiner Heimat aber tobt der Krieg, und so ergibt sich die erste Frage von selbst.

Juri Andruchowytsch: "Ich schreibe wieder und denke, dass das wichtig ist, weil es ein Weg ist, die eigene Lebendigkeit unter Beweis zu stellen."
Foto: Stefan Klüter / Suhrkamp-Verlag

STANDARD: Darf man in diesen Zeiten über Literatur sprechen, oder muss man es sogar?

Andruchowytsch: Das kann ich nicht eindeutig beantworten. Es ist gerade wichtig, Hilfe auf vielen Ebenen zu leisten. Zudem ist es wichtig, in internationalen Medien zu erklären, was bei uns passiert, unsere Sicht der Dinge zu erklären und zu reflektieren, die Ukraine zu erklären. Das tue ich sozusagen als öffentliche Person. Als Mensch der Kultur bin ich natürlich auch anderweitig tätig. Ein Beispiel: Zu Beginn der Invasion sind viele Kunstschaffende aus anderen Landesteilen auch in meine Heimatstadt Iwano-Frankiwsk geflohen. Im Stadttheater hat sich ein Kollektiv zusammengefunden, das überlegt hat, was die Kultur in solch einer Zeit tun kann. Ein Freund von mir, ein bekannter Komponist, meinte, man müsse "kulturelle Propaganda" machen. Er hat das bewusst scharf formuliert. Das Wort Propaganda ist mir eigentlich zuwider. Aber es beschreibt vielleicht das, was wir dann umgesetzt haben: Wir haben alte ukrainische Lieder rausgekramt, ich habe sie textlich an die aktuellen Ereignisse angepasst – etwas, was ich in einer normalen Zeit nie tun würde –, und dann haben wir sie für das Publikum gesungen, was auch im Fernsehen übertragen wurde. Das hat den Menschen etwas gegeben, und das war wichtig in dieser Zeit.

STANDARD: Können Sie selbst Literatur schreiben, wenn man täglich von den Sirenen des Luftalarms aufgeschreckt wird?

Andruchowytsch: Die ersten Monate ging das überhaupt nicht. Aber im Westen der Ukraine ist es mittlerweile wieder relativ sicher, eine Normalität ist, wenn man das so sagen kann, möglich. Ich hatte Ende vergangenen Jahres einen neuen Roman begonnen. Das erste Kapitel habe ich bis zum 20. Februar fertiggestellt. Dann kamen die Invasion und diese Notwendigkeit, mit seinen literarischen und kulturellen Fähigkeiten in der Zeit des Schreckens und Erstarrens für die Menschen tätig zu werden. Aber bereits im Mai habe ich dann wieder an dem Roman gearbeitet. Seitdem schreibe ich wieder, und ich denke, dass das wichtig ist, weil es ein Weg ist, die eigene Lebendigkeit und Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen.

STANDARD: Was ja auch eine Form des Widerstands ist. Und da sind wir bei einem Thema von "Radio Nacht". Der Protagonist Josip Rotsky moderiert darin eine nächtliche Radioshow, in der er melancholische Musik, Gedichte und Gedanken in die Welt hinaussendet. Entspringt diese spezielle Beziehung zum Radio Ihrer Erfahrung in der Sowjetunion, als das Radio eine der wenigen Möglichkeiten war, über die man andere Welten entdecken konnte?

Andruchowytsch: Meine Eltern hatten diesen sowjetischen Radioempfänger Radiola, der alle möglichen Wellen empfangen konnte. Gleichzeitig war ein Plattenspieler verbaut. Das Modell hieß Orbita und stammte aus den späten 1950er- Jahren, als die Sowjetunion von der Entdeckung des Kosmos besessen war. Als ich 1974 mein eigenes kleines Zimmer bekam, stand mein Bett ganz in der Nähe dieses Radiola-Geräts, das zu meiner besten Freundin wurde. Die nächtlichen Séancen wurden sehr prägend für mich. Ich habe vor allem polnisches Radio gehört, in dem tatsächlich sehr viel westliche Musik gespielt wurde. Vor allem Jazz, aber eben auch Rock ’n’ Roll, den man in der sowjetischen Ukraine nirgendwo zu hören bekam. Von da an wollte ich eigentlich Rockmusiker werden, allerdings konnte ich kein Instrument spielen. Jedenfalls sind so meine ersten Texte für eine imaginierte Band entstanden, weil ich eigentlich Songtexte schreiben wollte. Da war ich sechzehn und habe Gedichte geschrieben, die ich aber niemandem gezeigt habe. Meine Hoffnung war, dass ich irgendwann eine Band haben würde, in der die Texte Verwendung finden würden.

STANDARD: Aber die eigentliche Idee zu "Radio Nacht" ist dann 2005 im Zuge der Orangen Revolution entstanden?

Andruchowytsch: Genau. Wir waren damals mit sieben, acht ukrainischen Schriftstellern in Polen auf einer Lesereise unterwegs. In Warschau hatten mich Studierende in eine Radiosendung eingeladen, die sie selbst produzierten. Und einer der Studenten fragte mich im Interview, was ich denn machen würde, wenn ich kein Schriftsteller mehr sein könnte oder wollte. Und mir kam spontan in den Sinn, dass ich ein unpopuläres Radionachtprogramm erfinden würde, in dem ich ausschließlich traurige Musik abspielen würde. Ich hatte auch spontan sofort einen Namen für die Sendung: Radio Smutok, was so viel wie Radio Melancholie bedeutet. Diese Idee hat sich in mir festgesetzt. 2017 ist sie dann tatsächlich als Romanidee aufgetaucht.

STANDARD: Der Klang von Sprache und Musik, das Entdecken von anderen Welten, möglicherweise die Bedeutung von Isolation für rebellische Ideen – all das sind thematische Einsprengsel, die sich in dem Roman entdecken lassen. Über einen QR-Code, den man im Buch findet, hat man sogar Zugriff auf eine Playlist mit Songs, die nicht nur für Rotsky prägend sind, sondern auch für Sie. Was sind das für Songs?

Andruchowytsch: Die Songs stellen einen Faden dar, der die Figur von Rotsky auch mit mir persönlich verbindet. Es sind teilweise Songs, die in meiner Radiola-Zeit wichtig waren und die eben auch für Rotsky prägend waren in einer sehr schwierigen Kindheit und Jugend, wie beispielsweise der Song I’ve Seen That Movie Too von Elton John von dem wunderbaren Album Goodbye Yellow Brick Road oder Beyond the Pale von Procol Harum. Dazu gibt es Bands wie Archive, die ich erst etwa 2005/2006 für mich entdeckt habe, ukrainische Komponisten, Musik von der Pianistin Maryna Voznyuk oder auch Musik von mir. Denn in späteren Jahren bin ich doch noch zu meiner eigenen Band gekommen. Sie heißt Karbido. Dort singe ich. Aber weil die Band vor allem aus befreundeten polnischen Musikern besteht, sind wir nicht so häufig aktiv. Aber seit 2005 sind immerhin fünf Alben entstanden.

"Wir in der Ukraine sind sehr emotionale Menschen und drücken uns gerne in den vielfältigsten Formen aus."

STANDARD: In Rotskys Namen klingen die Namen des Schriftstellers Joseph Roth, des russischen Dichters Joseph Brodsky oder des Revolutionärs Leo Trotzki an. Was ist dieser Rotsky für eine Figur?

Andruchowytsch: Als ich mir Josip Rotsky ausgedacht habe, habe ich an die Keyboarder in Rockbands gedacht. Deren Bandkollegen bewegten sich wild und exzentrisch auf der Bühne und schmissen die ganze Show, alle jubelten ihnen zu, während die Tastenmusiker immer etwas abseitig dabeistanden, so als würden sie nicht wirklich zur Band gehören. Und in ihrer Musik, die sie zum Gesamtkonstrukt Band beisteuerten, drückte sich eine Isoliertheit aus, die aber andererseits wieder wichtig war, um der Musik das – sagen wir – nötige Etwas einzuhauchen. So habe ich mir Rotsky als tiefeinsamen Menschen vorgestellt und als Außenseiter. Er ist etwa so alt wie ich. Er hat die kommunistischen Zeiten in seinem Land erlebt. Nachdem das System zerfällt, fährt er nach Amerika, weil er glaubt, dass er als künftiger Rockmusiker dort viel lernen kann. Als er in sein Land zurückkehrt, ist er von seinem Leben in Amerika schon stark geprägt. Eine seiner Überzeugungen ist es, dass Einsamkeit etwas Wunderschönes ist, weil sie persönliche Freiheit bedeutet. Diese Überzeugung wird zum Ausgangspunkt für alle seine Handlungen und Taten. Denn er will diese Freiheit unter keinen Umständen aufgeben müssen oder verlieren. So wird er zum Revolutionär, zum Helden, aber auch zum Gejagten. Er findet aber auch eine Liebe, die ihn zumindest etwas verändert.

STANDARD: Letztlich endet Rotsky am Nullmeridian in der Nähe von Grönland. Von dort sendet er seine nächtlichen Radiosendungen in die Welt. Auf einer Karte kann er verfolgen, an welchen Orten seine Sendung gehört wird. Mich erinnerte dieses Bild ein wenig an die Ukrainer, die seit Jahren versuchen, dem Rest der Welt ihr Land, ihre Geschichte und Kultur zu erklären, und dabei immer etwas einsam bleiben.

Andruchowytsch: Das kann man sicher so sehen. Rotskys Heimatland wird im Roman auch nicht als die Ukraine bezeichnet, auch die Hauptstadt, wo die Revolution stattfindet, bezeichne ich nicht als Kiew. Aber es ist zweifelsohne ein Land, das der Ukraine sehr ähnlich ist und das ähnliche Probleme hat. Ich vermute, dass Rotsky sein Radioprogramm auf Englisch macht, weil er eben sehr stark durch die englischsprachige Rockmusik geprägt ist und eben den freiheitlichen Ideen der sogenannten westlichen Welt verbunden ist. Dennoch hat er auch eine starke Verbindung zu seiner Heimat. Und deswegen vermischen sich in seinen Selbstreflexionen viele Dinge, die auch Ukrainern nicht fremd sind – auch dass sie sich seit geraumer Zeit versuchen, der Welt zu erklären, und dabei immer wieder auf Widerstände und Unverständnis stoßen.

"Das Karnevaleske immer wieder aufgreifen": ein Mädchen am 28. August, dem ukrainischen Unabhängigkeitstag in Kiew.
Foto: Stefan Klüter / Suhrkamp-Verlag

STANDARD: Der Roman sprüht nur so von Assoziationen zur Ukraine, aber auch zur postsowjetischen Welt. Mit der Revolution im Buch ist deswegen sicher nicht die sogenannte Revolution der Würde (Euromaidan) in Ihrer Heimat gemeint?

Andruchowytsch: Die Premiere von Radio Nacht fand am 13. Dezember 2020 in der Ukraine statt. Damals standen wir alle noch unter dem Eindruck der Entwicklungen in Belarus, wo die Revolution durch das Regime Lukaschenko bereits zerschlagen worden war. Zudem gab es bei uns – wie in anderen Ländern – wegen Corona einen Lockdown. Wir waren also alle für uns isoliert. Also haben wir die Premiere ins Radio verlegt, wo ich Textausschnitte gelesen und Musik gespielt habe. Zudem konnten die Hörer Fragen stellen. Und so kam, nicht ganz unerwartet, die Frage: Warum beschreiben Sie unsere Revolution, also den Euromaidan, als gescheiterte Revolution? Ich musste dann erklären, dass es zwar im Roman auch um eine Revolution geht, aber eben nicht um die unsere von 2013/14. Der Roman ist im Ganzen der Versuch einer Bilanz zu dem, was sich in den postsowjetischen Republiken in den vergangenen 30 Jahren abgespielt hat. Da gibt es eben "vorletzte Diktatoren Europas", gescheiterte Revolutionen, gefallene Helden, Verführer und Verräter, Dissidenten, die ins Exil flüchten, Oppositionsgruppen, die sich untereinander bekriegen. Damit verbinden sich universelle Fragen von Liebe, Kunst, Tod und Freiheit und all dem, was Menschen eben ausmacht.

STANDARD: Wie auch in Ihren anderen Romanen dominiert in diesem die Überspitzung, das Ironische, das Karnevaleske. Sind diese Stilmittel etwas typisch Ukrainisches, um mit den Widrigkeiten des postsowjetischen Lebens fertigzuwerden?

Andruchowytsch: Das kann ich nicht genau sagen. Ich kann einfach nicht anders. Wenn ich schreibe, sprudelt das in dieser Weise aus mir heraus. Wie all die Kulturzitate, die sich in dem Roman finden. Ich behandele so einen Text nicht wie ein Projekt, für das ich diese Stilmittel herauspressen muss. Es geht mir einfach so. Unser Leben in der Ukraine bestätigt, wie ich finde, meine Art des Schreibens immer wieder. Deswegen funktioniert das so organisch. Es gibt eine Art Wechselwirkung, die mich dazu bringt, das Karnevaleske immer wieder in meinen Romanen aufzugreifen.

STANDARD: Aber der schwarze Humor ist schon auch ein Teil der Art und Weise, wie die Menschen in der Ukraine mit dem Horror des Krieges umgehen. Man sieht das an Memes und Videos, die durch das Internet fliegen, an Liedern, die geschrieben werden.

Juri Andruchowytsch
"Radio Nacht"
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.
€ 26,– / 472 Seiten
Suhrkamp-Verlag, 2022

Andruchowytsch: Die sozialen Medien und die Schnelligkeit des Internets machen solche Formen des Humors und der Ironie sehr populär und zu einer Art Mode, die entsprechend gern kopiert wird. Seit dem ersten Tag der Invasion ist dies tatsächlich ein Phänomen, das – und hier sind wir wieder beim zentralen Thema des Romans – auch aus einem unbedingten Freiheitswillen heraus entsteht. Wer ironisch oder humorvoll ist, muss fähig sein, die Welt aus einer anderen, einer eigenwilligen Perspektive zu betrachten. Es ist auch eine Form der Unabhängigkeit zu sagen: Wir haben eine hohe Widerstandsfähigkeit, wenn wir weiter lachen. Ihr könnt uns mal mit eurem Terror! Ich will das Thema nicht überstrapazieren. Man sieht das auch an den täglichen Videobotschaften Selenskyjs, der – wie wir alle wissen – Komiker war. Diese Botschaften sind eine interessante Mischung aus traurigen und ernsten Dingen und aus Humor. Das sind Sentimente, die nur schwer zu verstehen sind, wenn man kein Ukrainisch kann.

Ingo Petz, geb. 1973, ist ein deutscher Journalist und Autor mit Schwerpunkt Kulturszene in Belarus und Osteuropa.
Foto: privat

STANDARD: Mir scheint, dass der Roman versucht, erzählerisch und vor allem sprachlich dem auf die Schliche zu kommen, was Musik mit uns macht, wie sie uns prägt und wie sie Revolutionen in uns selbst auslösen kann. Auch ein ukrainisches Thema, oder?

Andruchowytsch: Musik hat immer eine große Rolle in unserer Geschichte und Kultur gespielt. Wir in der Ukraine sind sehr emotionale Menschen und drücken uns gerne in den vielfältigsten Formen aus. Im Ersten Weltkrieg gab es diese Welle der Soldatenfolklore. Es gibt ganze Hefte und Bücher mit diesen Liedern. Auch zur Revolution von 1917, zur Zeit der Unabhängigkeit des ersten ukrainischen Staates – all diese Ereignisse wurden nicht nur von Musik und Liedern begleitet, sondern das Politische und Emotionale fand durch die Musik selbst seinen Ausdruck. Und das ist bis heute so. Man singt viel zusammen, am Küchentisch, bei Familienfeiern, in allen möglichen alltäglichen Situationen, eben auch bei den Revolutionen der vergangenen Jahre, aber auch jetzt in diesem Krieg. Mit Musik lässt sich besser eine Sprache finden für das, was man häufig nicht so einfach aussprechen kann. (Ingo Petz, 17.9.2022)