Ewald (Georg Friedrich) trainiert rumänische Buben in Judo. Seine pädophile Neigung will er verdrängen.
Foto: Stadtkino Filmverleih

Der Skandal um den neuen Film des österreichischen Filmregisseurs Ulrich Seidl ist vorerst ausgeblieben: Starken Applaus, zum Teil stehende Ovationen und kein einziges Buh gab es bei der ersten Vorführung für das Fachpublikum von Sparta im Wettbewerb des Filmfestivals von San Sebastián am Sonntag.

Die abendliche Gala-Vorstellung von Sparta war dann eine Premiere, wie man sie wohl noch niemals in der 70-jährigen Geschichte des Filmfestivals von San Sebastían erlebt hatte: ohne einen einzigen Star auf dem roten Teppich, ohne einen Regisseur, der vor Beginn der Vorführung mit Applaus im voll gefüllten Saal begrüßt wurde.

Dem Beifall nach der Vorführung tat dies keinen Abbruch – auch das "normale", also nicht professionelle Publikum in San Sebastian nahm den Film warmherzig auf. Eine natürlich nicht repräsentative spontane Publikumsbefragung nach der Vorstellung ergab durchweg positive Reaktionen. "Es war darin vielleicht eine Szene, die man mit bösem Willen problematisch finden kann", so ein Zuschauer, "aber ansonsten denke ich, dass es ein guter Film war". "Ich verstehe den ganzen Ärger nicht" sagte eine ältere Zuschauerin, die allerdings auch zugab, von den Anschuldigungen gegen die Produktionsbedingungen des Films erst gestern aus der Zeitung erfahren zu haben.

"Zensur ist keine Antwort"

"Es ist schade, dass das Filmteam nicht hier war und den Applaus gehört hat und ihre Arbeit erklären konnte", meinte eine Dritte. Kaum einer der knapp 2000 Premieren-Zuschauer verließ während der Vorstellung den Saal – was bei Seidls Filmen keineswegs selbstverständlich ist. "Ich bin kein großer Fan dieser Filme und von Seidls Methode" erklärte eine spanische Filmregisseurin, die ebenfalls in der Premiere war, "aber ich habe Respekt vor diesem Film, und finde es richtig, dass er gezeigt wird. Wir können und sollten unsere Produktionsbedingungen immer verbessern, aber 'Cancel Culture' und Zensur sind keine gute Antwort. Damit haben wir in Spanien jahrzehntelang sehr schlechte Erfahrungen gemacht."

Im Team um den Wiener Filmemacher dürfte man erleichtert aufgeatmet haben – zugleich war die Premiere im Baskenland keinesfalls eine normale, sondern in vieler Hinsicht besonders.

Erst am Samstag hatte Seidl nämlich seine Reise nach San Sebastián und damit auch die eigentlich nach jeder Wettbewerbsvorstellung stattfindende Pressekonferenz abgesagt. Auch kein einziges anderes Teammitglied stand den Fragen der Journalisten Rede und Antwort – offenbar ist man überzeugt, dass jede Kommentierung der heftig bestrittenen Vorwürfe diesen nur weitere Aufmerksamkeit verschafft. Nicht bei allen kam das gut an: Ein spanischer Filmkritiker kommentierte: "Seidl verweigert sich der Verteidigung seines Films. Das kann ich nicht verstehen."

Fernbleiben als Statement

Denn nach wie vor stehen Anschuldigungen im Raum, Seidl habe die beteiligten rumänischen Kinder und Jugendlichen inkorrekt behandelt und seine Aufsichtspflicht verletzt. Das Filmfestival von Toronto hat Sparta daraufhin aus seinem Programm ausgeladen. Demgegenüber erklärte José Luis Rebordinos, Direktor von San Sebastián, den Film in jedem Fall zeigen zu wollen: Man werde einen bereits eingeladenen Film nur im Fall eines gerichtlichen Verbots wieder aus dem Programm entfernen.

Im Baskenland, das mit der Zensur während des Franco-Regimes leidvolle Erfahrungen machte, ist man traditionell sehr zurückhaltend mit allem, was auch nur ein bisschen nach Einschränkung künstlerischer Freiheiten klingt. Hier zeigte man auch schon Dokumentarfilme über die ETA unter Polizeischutz

Spricht der Film für sich?

Seidl, der alle Vorwürfe bestreitet, erklärte dazu am Samstag: "Ich bin José Luis Rebordinos sehr dankbar, dass er von Anfang an zu Sparta gestanden hat, trotz des Drucks der Medien und trotz der großen Turbulenzen, die plötzlich damit einhergingen. Das bedeutet mir sehr viel. (...) Mir wurde jedoch klar, dass meine Anwesenheit die Rezeption des Films überschatten könnte, während es jetzt an der Zeit ist, dass Sparta für sich selbst spricht.

Nimmt man diesen Wunsch ernst – was ist es dann, was Sparta zeigt? "So ein Tag, so wunderschön wie heute ..." – eine Gruppe offensichtlich dementer Greise versucht in der allerersten Einstellung des Films mehr schlecht als recht, dieses Lied zu singen. Man kennt die wohlkomponierte, symmetrische, latent cleane Kameraeinstellung von allen Seidl-Filmen, man kennt das Altersheimsetting bereits aus Seidls letztem Film Rimini, der im Februar Premiere hatte.

Beide Filme bilden ein Tandem, sie handeln von zwei Brüdern und ihrem Vater, einem der Insassen des Altersheims, den Hans-Michael Rehberg in seiner allerletzten Filmrolle verkörpert.

Ulrich Seidl weist alle Vorwürfe zurück.
Foto: EPA / SASCHA STEINBACH

Anders als erwartet

Kurz darauf fährt dessen Sohn Ewald (verkörpert von Georg Friedrich) nach Transsilvanien. Er hat eine rumänische Freundin, aber im Bett klappt es nicht, und auch sonst fühlt er sich in ihrer Gegenwart eher unwohl. Es ist eine große Leistung von Friedrich, wie er hier einen hypernervösen, verkrampften Mann spielt, der offensichtlich mit sich selbst hadert.
Entspannung findet er nur in der Gegenwart von sechs- bis 14-jährigen Buben. Erst nach und nach wird klar, dass er sie auch sexuell begehrt. Bald kauft er in einem Dorf eine leerstehende Schule und baut sie zu einem Jugendcamp namens "Sparta" um, in dem er männlichen Kindern Zuflucht bietet, sie in Judo unterrichtet, Zeit mit ihnen verbringt, ohne ihnen aber jemals im falschen Sinn nahezukommen

Was man im Rückblick kaum mehr simulieren kann, ist, wie dieser Film wohl ohne die im Raum stehenden Vorwürfe gewirkt hätte. Nun dominiert erst einmal eine enttäuschte Skandalerwartung. Denn Sparta ist viel ruhiger und viel humanistischer und viel weniger provozierend, als man das vielleicht erwartet hätte.

Keine offensichtliche Pädophilie

Die von manchen bereits bei Rimini konstatierte "Altersmilde" des Regisseurs ist auch hier erkennbar. Sofern man so etwas als Filmzuschauer einem Film überhaupt anmerken kann, haben die Kinder ganz offensichtlich ihren Spaß bei ihren Filmszenen.

Seidls Film zeigt keinerlei Missbrauchshandlung, eine solche wird auch nicht darin angedeutet. Die Figur des Ewald ist vielmehr einer jener Pädophilen, die ihren Trieb gegen alle Widerstände mit eigener Willensstärke im Zaum halten und eben nicht ausleben.

Zugleich ist offenkundig, dass Pädophilie gar nicht im Zentrum des Films steht. Sparta handelt vielmehr von der Gewalt der Väter. Das gilt für die rumänischen Väter der Buben, und Ewald ist hier der Einzige, der versucht, den zum Teil zu Hause misshandelten Kindern gegen ihre Familien zu helfen.

Nazi-Lieder und Hitlerrede

Immer wieder ist die Handlung in Rumänien auch von kurzen Szenen unterbrochen, in denen Rehbergs Figur Nazi-Lieder singt oder aus Hitler-Reden zitiert. Die gewalttätige Erziehung durch diesen vom Faschismus durch und durch geprägten Vater hat seine beiden Söhne fürs Leben gezeichnet.

Es geht darum, die Gewalt der Männerbünde zu zeigen, aber auch die Gefühle, die in Männerbünden zugelassen und möglich sind. Vor diesem Hintergrund ist auffällig, dass es vor allem deutsche Autoren sind, die Seidl jetzt anklagen. Will man sich von der eigenen deutschen NS-Vergangenheit entlasten, indem man den Boten denunziert?

(Rüdiger Suchsland aus San Sebastián, 18.9.2022)

Aktuelle Pressestimmen zur Premiere aus Spanien:

"ABC"

"Es war das komplette Paket, eine Geschichte über diese ungesunde Anziehungskraft der Kindheit in den Händen eines Regisseurs mit Hang zum Extremen. Der Trost: 'Sparta' ist ein extremer Film, ja, der aber einen unerwünschten Charakter, einen Pädophilen, mit erzählerischer Subtilität und einer intelligenten Balance zwischen Sünde und Buße verfolgt... Kurz gesagt: ein viel besserer und besser verdaulicher Film als erwartet, den Sie mögen oder nicht mögen werden. Aber er ist mit Finesse, Berechnung, Intelligenz und dem Wunsch gemacht, mehr Diskussionen als Kontroversen zu erzeugen."

"EL MUNDO"

"Und am Sonntag sprach er endlich. 'Sparta' sprach. Und ohne irgendetwas zu beweisen oder zu widerlegen, bleibt nur zu sagen, dass der Film eine rohe, verstörende und sehr düstere Reflexion über eine gefangene Existenz ist. Im Gegensatz zu vielen seiner früheren Filme, die immer darauf aus waren, die Kamera auf die dunkle Seite der privilegierten Wohlstandsgesellschaft zu lenken, strebt Seidl jetzt nach rücksichtsloser Nüchternheit. Überhaupt nicht exhibitionistisch und viel weniger moralistisch. Der Blick des 'Voyeurs', den er in seinen früheren Arbeiten mit solcher Ironie – in vielen Fällen nicht von Zynismus zu unterscheiden – verwendet hat, wird nun bis zur Verzweiflung annulliert...

Das Ergebnis ist wohl Seidls bester Film, der verzweifeltste, der prägnanteste, der plumpeste ... aber zu welchem Preis? Ist für die Kunst alles wert? ... Wie auch immer wir es ausdrücken, die Unschuldsvermutung gilt nicht in gleicher Weise für jedes Verbrechen, wenn die Opfer entweder die Schwächsten (Kinder, arme Kinder) oder diejenigen sind, die unter den Folgen einer ungerechten sozialen Struktur leiden (Frauen, misshandelte Frauen). Ein schlechter Tag, um Jury bei einem Filmfestival zu sein."

"LA VANGUARDIA"

"An diesem Sonntag wurde der Film vor einem erwartungsvollen Publikum gesehen, das diese unbequeme, mit ruhiger Hand erzählte Geschichte, die sich um den kranken Verstand eines Pädophilen dreht, der gegen seine Impulse kämpft, beklatscht hat... Seidls Intelligenz in diesem interessanten, rohen und riskanten Werk liegt in der genauen Beobachtung des Verhaltens eines gequälten Typen, der am Abgrund steht und wie er versucht, gegen die Versuchung anzukämpfen. Der Regisseur versucht mit allen Mitteln zu vermeiden, uns Ewald als monströses Wesen zu präsentieren. Hier lauert vielmehr Gewalt seitens einiger Eltern der Kinder, die diesen Lehrer mit Argwohn und Misstrauen betrachten. 'Sparta' ist sicherlich ein schwer verdaulicher Film, aber seine Handlung lädt zu einer mehr als willkommenen Debatte inmitten einer Lawine leichterer Titel ein. Seidl hat die Messlatte höher gelegt und sein Film verdient eine prominente Auszeichnung."

"EL PAÍS"

Spaniens größte Tageszeitung konzentriert sich vor allem auf die Anschuldigungen und stellt klar, dass "in keinem Moment gezeigt wird, dass die pädophilen Wünsche des Protagonisten zu Päderastie führen. Kein Kind erscheint nackt, obwohl sie in Unterhosen zu sehen sind. Seidl, ein Meister der Manipulation und der Dunkelheit, weist auf eine Reflexion hin: Der österreichische Judomeister mit pädophilen Neigungen ist ein besserer Vater als die Echten, die sich in einem Siebenbürgen aus verlassenen Schulen und herrschender Armut nicht um ihre Kinder kümmern."