Corona-Maßnahmen gibt es kaum noch. Doch Fachleute sind sich sicher, dass die Infektionszahlen im Herbst deutlich steigen werden.

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Die Welt sei, was Corona angehe, noch nie in einer besseren Position gewesen, ist man sich vonseiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sicher. Es sei zwar noch nicht geschafft, aber das Ende bereits in Sicht, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus letzte Woche. Auch US-Präsident Joe Biden betonte am Wochenende in einem Fernsehinterview: "Die Pandemie ist vorbei, aber wir haben immer noch ein Problem mit Covid." Er sei davon überzeugt, dass sich die Situation zum Positiven verändern würde, schließlich trage niemand im TV-Studio eine Maske: "Das ist ein perfektes Beispiel dafür."

Gleichzeitig beobachten Fachleute immer wieder neue Mutationen der Omikron-Variante, die das Immunsystem so gut umgehen können wie keine Variante zuvor. Dazu kommt der Jahreszeiteneffekt. Im Herbst und Winter steigen die Infektionszahlen erfahrungsgemäß an. Die Menschen halten sich vermehrt drinnen auf, und das Virus kann sich leichter verbreiten. Wie legitim ist es also, jetzt vom Ende der Pandemie zu sprechen?

Vorsichtig optimistisch

Grundsätzlich zeigen sich die meisten Fachleute auch hierzulande vorsichtig optimistisch, wie etwa Dorothee von Laer, Virologin an der Med-Uni Innsbruck: "Eine Pandemie ist dann vorbei, wenn sich in der Bevölkerung ein hohes Level an Immunität aufgebaut hat, und das ist wohl außer in China überall auf der Welt der Fall", sagt sie.

Auch Herwig Kollaritsch, Infektiologe und Mitglied des Nationalen Impfgremiums, sieht das ähnlich – bleibt aber in der Formulierung vorsichtiger: "Wir kommen zunehmend in eine etwas bessere Situation, weil sich das Immunitätsniveau in der Bevölkerung durch viele Impfungen und Infektionen hebt." Dadurch sei der Schaden nicht mehr so groß. Das bedeute aber nicht, dass die Pandemie vorbei sei: "Wir haben immer wieder durch einen Variantenwechsel Probleme bekommen, und auch jetzt sind wir vor Überraschungen absolut nicht sicher", sagt der Infektiologe.

Neue Mutationen

Und tatsächlich tauchen immer weitere Omikron-Mutanten auf. Neben der erst kürzlich entdeckten BJ.1-Variante berichten Fachleute nun von der Mutation BA.2.75.2. Dazu kommen Subtypen der bei uns dominierenden BA.5-Variante. Eines haben alle diese neu entdeckten Subtypen gemeinsam: "Sie können vermutlich unsere bisher aufgebaute Immunabwehr ziemlich gut umgehen", sagt Ulrich Elling, Molekularbiologe an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Das liegt daran, dass die Subtypen alle Veränderungen am Spike-Protein haben, "an der Stelle, die in bisherigen Varianten unverändert war und an die Antikörper deshalb andocken würden".

Darum wird vermutet, dass der aufgebaute Immunschutz bei den neuen Varianten, schlechter vor Ansteckung schützen könnte als bisher. Laut Elling verbreitet sich im Moment noch die BA.5-Untervariante mit zusätzlichen Mutationen. "Wir beobachten jedoch, dass sie sich sehr langsam ausbreitet. Ich nehme an, dass sie von einer der anderen Varianten wie BJ.1 oder BA.2.75.2 oder auch von einer ganz anderen noch überholt wird."

Weil es sich bei allen derzeitigen Mutationen immer noch um Omikron-Varianten handelt, sind schwere Verläufe selten. Infektiologe Kollaritsch plädiert daher jetzt für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit der Pandemie: "Wir ziehen immer noch die Hospitalisierungs- und Todesraten als Parameter heran. Wenn es darum geht, sind wir aus dem Gröbsten heraus. Aber trotzdem werden viele Leute krank – zwar nicht sehr schwer, aber sie werden krank", betont er. Und diese Leute hätten alle ein "durchaus beträchtliches Risiko", Long Covid zu entwickeln, warnt er: "Wenn in sehr kurzer Zeit viele Menschen durch Erkrankungen ausfallen, ist das für die Infrastruktur genauso kritisch wie hohe Spitalszahlen."

Falsches Signal

Ähnlich sieht das Elling: "Natürlich treffen Aussagen zum vermeintlichen Pandemieende im Moment den Nerv der Menschen. Wir alle wollen, dass es vorbei ist. Dennoch werden die Zahlen wieder steigen. Vor allem die neuen Varianten entkommen unserer Immunantwort so stark wie noch keine andere Variante zuvor." Für ihn ist es daher "ein falsches Zeichen zum falschen Zeitpunkt. Es wird suggeriert, dass Corona vorbei ist, denn der Begriff Pandemie wird von vielen mit hohen Infektionswellen gleichgesetzt." Wenn also suggeriert wird, dass diese Infektionswellen nicht mehr kommen werden, werde ein falsches Zeichen der Sicherheit gesetzt.

Auch Kollaritsch warnt vor voreiliger Euphorie. Zwar werde sich der pandemische Status mit riesigen Infektionswellen in einen endemischen Status umwandeln, aber: "Wir sind immer noch in einer unsicheren Situation, und die Krankheitslast, die aus Corona resultieren kann, ist nach wie vor gewaltig." (Jasmin Altrock, Magdalena Pötsch, 20.9.2022)