Übergriffe sollen auch im Schulbereich stattgefunden haben: etwa bei einer "Lesenacht" im Schulturnsaal und auf einer Schulsportwoche (Symbolbild).

Foto: Heribert Corn

Im Herbst 2019 klopfen Beamte der Kriminalpolizei an Herrn M.s* Tür. Er wird davon in Kenntnis gesetzt, dass nach einer eingelangten Anzeige bei seinem ehemaligen Turn- und Vertrauenslehrer in der Wiener Mittelschule eine Hausdurchsuchung stattgefunden habe. M. sei auf einigen Fotos zu sehen, die auf Datenträgern in der Wohnung seines Ex-Lehrers gefunden worden seien, wird ihm mitgeteilt. M. ist schon lange kein Schüler mehr.

Bei der Einvernahme ist M. dann schockiert: Ihm werden mehrere Bilder gezeigt, auf denen er sich als Mittelschüler im Jahr 2004 erkennt: schlafend, die Hose heruntergezogen. M. erkennt, dass die inkriminierten Fotos ohne sein Wissen bei einer Schulsportwoche aufgenommen worden sein müssen – und zwar von seinem Ex-Sportlehrer, der in der Schule im zweiten Bezirk als überaus beliebt galt. "Ich hatte bis dahin nur gute Erinnerungen an ihn", sagte er dem STANDARD.

Lange Liste an sichergestellten Datenträgern

M. ist bei weitem nicht der einzige ehemalige Schüler des Pädagogen, der 2019 von Beamten kontaktiert wurde. Denn die Liste der bei der Hausdurchsuchung sichergestellten Datenträger, auf denen die inkriminierten Fotos und Videos gefunden wurden, ist lang – sie liegt dem STANDARD vor: Demnach fanden sich diese auf einem Mobiltelefon, vier externen Festplatten (darunter eine mit einem Speicherplatz von 1000 Gigabyte und eine mit 160 Gigabyte) sowie auf zwei Notebooks.

Tatzeitraum erstreckt sich laut Polizei von 2004 bis 2019

Den Ermittlungen zufolge hat der Lehrer über einen Zeitraum von 15 Jahren zumindest 25 Schüler zwischen elf und 14 Jahren sexuell missbraucht sowie kinderpornografisches Material angefertigt. M. dürfte im Jahr 2004 eines der ersten identifizierten Opfer gewesen sein. Der Tatzeitraum reicht bis ins Jahr 2019: Laut Anwältin Herta Bauer, die M. vertritt, soll der Pädagoge die letzten strafrechtlich relevanten Fotos nur wenige Tage vor der Hausdurchsuchung aufgenommen haben. Von seiner Ex-Schule oder der Bildungsdirektion wurde M. noch nicht kontaktiert, sagte er.

Die Causa ist einer der größten Fälle sexuellen Missbrauchs, die es in Wien in den vergangenen Jahren gegeben hat. Und sie ist noch immer nicht aufgearbeitet, was Bauer kritisiert. Dazu kommt, dass der Lehrer, der seit 1996 Pädagoge war, auch lange in Sportvereinen in Wien sowie in einem Feriencamp tätig war.

Fall ist im April 2019 aufgekommen

Aufgekommen ist der Fall im April 2019, als eine erste Missbrauchsverdachtsanzeige bei den Behörden eingelangt ist. Am 13. Mai 2019 erfolgte die Hausdurchsuchung. Nur wenige Tage später – und kurz vor der geplanten Einvernahme – beging der Pädagoge Suizid. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen sowie Herstellung und Besitzes von kinderpornografischem Material wurden eingestellt.

Der jahrelange Missbrauchskomplex, der so lange unentdeckt blieb, rief massive Kritik der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) hervor. Die Ombudsstelle sah ein vollständiges Systemversagen des Bereichs Schule. Schüler seien ohnmächtig der Willkür eines Lehrers ausgesetzt gewesen – "und das an einem Ort, an dem sie eigentlich geschützt sein sollten".

Weiterhin gibt es aber offene Fragen, die irritieren: So sagte Wiens Bildungsdirektor Heinrich Himmer nach dem ersten STANDARD-Bericht im Mai 2022 zur APA, es stehe fest, dass es zu den Übergriffen ausschließlich außerhalb der Schule gekommen sei. Der Pädagoge hatte Schüler mit zu sich nach Hause genommen, wo er ihnen teils K.-o.-Tropfen verabreicht haben soll. Die Aufnahmen von M. sollen aber bei einer Schulsportwoche aufgenommen worden sein – also im schulischen Rahmen. Dem STANDARD liegt zudem eine Zeugenaussage vor, wonach es im Schulturnsaal zu Tathandlungen gekommen sein soll. Der Pädagoge hatte 2009 eine Lesenacht mit Übernachtung organisiert. Ein Opfer sagte, dass es dabei zu Übergriffen gekommen sein soll.

Bericht der Kommission folgt im November

In einer Stellungnahme der Bildungsdirektion hieß es: "Der Kommission liegen diese Zeugenaussagen nicht vor." Es handelt sich um jene Kommission, die von der Bildungsdirektion und der KJA im Jahr 2020 eingerichtet wurde, um Versäumnisse des Falls zu erkennen und Lehren für die Zukunft zu erarbeiten. "Ein vorläufiger Endbericht ist für November 2022 geplant."

Die Bildungsdirektion bittet, dass sich Zeugen melden sollen. "Sobald sich betroffene Personen melden, wird die Kommission aktiv." Zudem sei die Kontaktaufnahme mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern sowie Pädagoginnen und Pädagogen in Umsetzung.

M.s Anwältin Bauer kritisiert, dass das nicht schon längst passiert sei. Sie fordert die Einrichtung einer Expertenkommission des Justizministeriums und der Stadt, bei der sich Opfer melden können – sowie eine Entschädigung für die Opfer. Bauer führt zudem ins Treffen, dass sie wegen einer Amtshaftungsklage um Akteneinsicht zu den Fotos von M. gebeten hat. "Mir wurde aber mitgeteilt, dass es keine gesicherten Daten mehr gibt." (David Krutzler, 19.9.2022)