Von der Gletscherzunge der Pasterze ist nicht mehr viel übrig. Wo früher Eismassen lagen, hat sich ein See gebildet.

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Ein Team von Freiwilligen dokumentiert jedes Jahr den Rückzug der Gletscher in ÖSterreich

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Weite Teile der Gletscherzunge sind schmutzig, also von Schutt bedeckt. "Dadurch lässt sich schwer abschätzen, wo das Eis beginnt", sagt Kellerer-Pirklbauer.

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Gerhard Lieb ist die Sentimentalität bereits abhandengekommen. "Wenn man sich das vierzig Jahre lang ansieht, ist man abgebrüht", sagt der Grazer Geografie-Professor beim Blick auf die Pasterze – oder das, was von ihr übrig ist. Denn Österreichs größter Gletscher zieht sich zurück, und das jedes Jahr. Lieb ist seit 1981 als freiwilliger Gletschermesser für den Alpenverein im Einsatz. Auch heuer wieder war er Mitte September gemeinsam mit seinem Team am äußersten Rand des Eises unterwegs, um an vordefinierten Punkten Messungen vorzunehmen.

Im Vorjahr verlor das Kees am Großglockner 42,7 Meter an Länge. "Heuer erwarten wir einen noch stärkeren Rückzug", sagt Liebs Kollege Andreas Kellerer-Pirklbauer, der ebenfalls am Institut für Geographie und Raumforschung an der Uni Graz als Wissenschafter arbeitet und seit 22 Jahren bei den Messungen an der Pasterze dabei ist. 50 bis 70 Meter an Länge könnte das Gletschereis heuer verlieren, schätzt Kellerer-Pirklbauer, der zusammen mit Lieb den Gletschermessdienst des Alpenvereins leitet. Die genauen Zahlen des Gletscherschwundes müssten jedoch noch ausgewertet werden. Sie werden Anfang April mit dem Gletscher-Bericht veröffentlicht, den die beiden Wissenschafter jedes Jahr für Österreich erstellen.

Gletscherzunge wird abbrechen

Es ist kalt und nass an diesem Septembermorgen. Die Wanderung von der Franz-Josefs-Höhe an der Großglockner-Hochalpenstraße hinunter zur Pasterze fällt aufgrund des starken Regens ins Wasser. Deshalb zeigen die beiden Geografen die Folgen des globalen Klimawandels in den schützenden Tunnels des Gamsgrubenwegs.

Andreas Kellerer-Pirklbauer (links) und Gerhard Lieb leiten den Gletschermessdienst des Alpenvereins.
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"Die Gletscherzunge, die das Bild von der Pasterze prägt, verschweigt, dass man den Großteil des Gletschers nicht sieht", sagt Lieb am ersten Aussichtspunkt. Die Nährgebiete und wirklich großen Gletscherflächen lägen weiter oben im Schnee- und Riffelwinkel auf rund 3.000 Metern Höhe. Der Hufeisenbruch, die Eisverbindung zwischen den Nährgebieten zur Zunge – "ein rund 200 Meter breiter Eisstreifen", wie es Lieb beschreibt –, sei heute noch intakt. In den Nährgebieten fällt mehr Schnee, als im Sommer wieder abschmilzt. Hier rinnt das Eis hinunter in das Zehrgebiet der Gletscherzunge. "Genau dieser Prozess ist jetzt dabei aufzuhören", erklärt Lieb. Denn es komme nur noch wenig Eisnachschub von oben.

Größter Toteiskörper Österreichs

In den nächsten zwei bis drei Jahren werde die Verbindung der Zunge zum Gletscher am Hufeisenbruch abreißen, prognostiziert sein Kollege Kellerer-Pirklbauer. So werde die markante Zunge zu einem eigenen Eiskörper, der nicht mehr vom Nährgebiet versorgt werden könne und daher abschmelze. "Der größte Toteiskörper Österreichs", sagt der Gletschermesser. Spannend werde sein, was mit dem übriggebliebenen Eis passieren werde, ergänzt Lieb. "Einbruchserscheinungen sind bereits deutlich zu hören."

Die beiden Wissenschafter waren drei Tage mit der Ausrüstung unterwegs, um Daten zu sammeln. Klassische Maßbänder kommen ebenso zum Einsatz wie ein Differential-GPS und für die mittlerweile unzugänglichen Teile des Gletschers auch eine Drohne. So werden der Umfang und die Länge sowie die Höhenveränderung der Pasterze dokumentiert. Auch die Fließgeschwindigkeit des Eises wird erhoben. Dafür werden rot beschriftete Steine auf das Eis gelegt und im Folgejahr nachgesehen, wie weit diese getriftet sind – sofern sie nicht in einer Spalte gefallen sind oder vom Schmelzwasser mitgerissen wurden.

Warmer Sommer setzte Pasterze zu

Die Messungen vor der Kaltfront und dem prognostizierten ersten Schnee durchzunehmen war eine Punktlandung. Die rund 80 Gletschermesser, die jedes Jahr den Gletscherstand freiwillig für den Alpenverein erheben, müssen geländegängig und bergerfahren sein. Die Ränder des Eises zu erreichen werde durch die Gletscherschmelze von Jahr zu Jahr schwieriger, erzählt Lieb. Am Vortag wateten die Männer ohne Schuhe und Hose durch das vier Grad kalte Schmelzwasser, um an das Ende der Gletscherzunge zu gelangen. Der Bach fließt in den großen Sandersee, der sich vor 15 Jahren anstelle der Eismassen gebildet hat. Teile der Gletscherzunge sind zudem schmutzig, also von Schutt bedeckt. "Dadurch lässt sich schwer abschätzen, wo das Eis beginnt", sagt Kellerer-Pirklbauer.

Um die Ränder des Gletschers zu erreichen, müssen die Vermesser beim Zufluss zum Gletschersee durch das Schmelzwasser waten.
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Heuer sei das Wetter besonders gletscherungünstig gewesen: ein niederschlagsarmer Winter und ein warmer, strahlungsintensiver Sommer ohne Kaltlufteinbrüche, die sonst auch in den Sommermonaten Neuschnee ins Hochgebirge bringen. Schnee, der das Gletschereis vor der Sonne schützen würde, ist heuer ausgeblieben. Bis zu 15 Millionen Kubikmeter Eis könnten heuer abgeschmolzen sein, schätzt Kellerer-Pirklbauer nach den Messungen. "Die Pasterze, wie wir sie kennen, mit langer Gletscherzunge und hohen Firnfeldern, wird es nur mehr wenige Jahre geben."

Ewiges Eis mit Ablaufdatum

Wie die Pasterze früher ausgesehen hat, ist heute nur noch auf den Schautafeln mit historischen Bildern zu sehen. Das hundert Meter dicke Eis der Gletscherzunge reichte bis unter den Aussichtsplatz auf der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe, wo heute der See an sie erinnert. Die Station der Gletscherbahn, die Besucher vom Parkplatz zum Eis brachte, führt nun ins Leere. Wer zum Anfang der Gletscherzunge gelangen will, muss schon ein ganzes Stück weit wandern. Wo heute nur noch blanker Fels zu sehen ist, floss in den 1990er-Jahren noch Eis.

Viele Menschen berührt das Schmelzen der Gletscher emotional. Nicht verwunderlich, denn nirgendwo sind die Folgen des globalen Klimawandels direkter sichtbar als vom auch mit dem Auto erreichbaren Aussichtspunkt der Franz-Josefs-Höhe. "Die Pasterze ist eine berühmte Ikone, an der sich der österreichische Nationalstolz manifestiert", sagt Lieb. Ihr Abschmelzen werde mehr wahrgenommen als das Aussterben von Pflanzen oder Tieren. Auf die Frage, was jeder Einzelne noch tun könne, um die Gletscher zu bewahren, antwortet Lieb ehrlich: "Sie sind eigentlich nicht mehr zu retten." Selbst mit Einhalten des angestrebten Zwei-Grad-Ziels der Klimapolitik komme es zur vollkommenen Entgletscherung in Österreich. "Die Gletscher wechseln von der Geografie zur Geschichte", fasst Lieb zusammen. (Stefanie Ruep, 20.9.2022)

VIDEO: Der Jamtalferner-Gletscher verliert jährlich rund einen Meter an Gletscherdicke, dieses Jahr aber schon jetzt mehr als einen Meter. Aufgrund der globalen Erwärmung und des daraus resultierenden Schneemangels schmilzt der Gletscher nun schneller als bisher


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