"Es muss endlich etwas passieren. Es gibt zu viele Steuern und zu wenig Arbeit", sagt Paolo Babarelli.

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"Siamo pronti, Giorgia!"

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"Ich wähle Meloni, weil sie ihre Meinung nicht permanent ändert und ihre Versprechen hält", sagt der 70-jährige Umberto Gabella.

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Die Fans werden mehr und mehr. Die Fratelli d'Italia mit Spitzenkandidatin Giorgia Meloni könnten laut Umfragen auf 25 Prozent kommen.

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Cosimo Gagliardi ist bekennender Mussolini-Nostalgiker.

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Ein makelloser, blauer Himmel wölbt sich über der Piazza del Duomo von Mailand. Rechts vor dem Dom ist eine Bühne aufgebaut, auf Plakaten und Transparenten steht das Wort "Pronti", auf Deutsch bereit. Es ist das Leitmotiv der Partei Fratelli d'Italia und ihrer Anführerin Giorgia Meloni: Sie und ihre Brüder Italiens sind bereit, die Nation "wieder aufzurichten", wie es auf den Plakaten heißt.

Etwa 5.000 Fans sind an diesem spätsommerlichen Sonntag auf die Piazza geströmt, um die 45-Jährige live zu sehen. Sie schwenken blaue Fahnen mit dem Parteiemblem und die italienische Trikolore, die von den Parteifunktionären bei allen Wahlveranstaltungen ans Wahlvolk verteilt werden. Im Parteilogo züngelt immer noch die grün-weiß-rote Flamme über dem stilisierten Grab des früheren Diktators Benito Mussolini.

Die Ultranationalistin, die als große Favoritin der Parlamentswahl am kommenden Sonntag gilt, kommt 40 Minuten zu spät zu ihrem Auftritt – was die Stimmung auf der Piazza aber kaum zu beeinträchtigen vermag.

"Ich wähle Meloni, weil sie ihre Meinung nicht permanent ändert und ihre Versprechen hält", sagt der 70-jährige Umberto Gabella. Dem pensionierten Informatiker gefällt, dass Meloni die Interessen Italiens in den Mittelpunkt stellt: "Wir müssen in Brüssel unsere Werte und unsere Wirtschaft verteidigen, wie das alle anderen Länder ebenfalls tun. Wir stellen die EU nicht infrage, aber wir wollen versuchen, in Brüssel die Regeln zu ändern, es gibt einfach zu viel Bürokratie. Aber solange die Regeln so sind, wie sie sind, werden wir uns an sie halten", betont Gabella.

Zu viele Steuern, zu wenig Arbeit

Paolo Babarelli sieht das ähnlich: "Wir müssen an uns Italiener denken, uns auf unsere Stärken besinnen. Wir sind doch kein Drittweltland", sagt der 38-jährige Buskontrolleur. Die Leute seien müde und deprimiert, jeder Dritte könne seine Strom- und Gasrechnungen nicht mehr zahlen. "Es muss endlich etwas passieren. Es gibt zu viele Steuern und zu wenig Arbeit. Und es gibt zu viele Immigranten – da hilft nur eine Seeblockade, wie sie Meloni fordert." Die Linke und die Fünf-Sterne-Bewegung hätten Italien ruiniert – etwa mit der Einführung des Bürgereinkommens.

Emma C. wiederum freut sich, dass erstmals eine Frau Regierungschefin Italiens werden könnte. Sie glaubt nicht, dass Meloni die Rechte der Frauen, Homosexuellen und Diversen beschneiden würde: "Das ist eine Erfindung der Linken, die keine Argumente hat und deren einziges Ziel im Wahlkampf darin besteht, Meloni zu dämonisieren", betont die 23-jährige Studentin der Politikwissenschaft. "Meloni steht für eine vernünftige Politik, die meinen persönlichen Werten entspricht: Sie setzt sich ein für soziale Gerechtigkeit, für die Schaffung von Arbeitsplätzen, für die Bildung." Die Linke sei intolerant: Wer ihre Meinung nicht teile, werde sogleich als faschistisch verunglimpft. "Aber auch ich habe das Recht, meine politische Meinung zu äußern; es darf doch nicht sein, dass ich deswegen beleidigt werde."

Emma C. hatte bei den letzten Parlamentswahlen von 2018, als sie als 18-Jährige zum ersten Mal wählen durfte, noch Silvio Berlusconi die Stimme gegeben. Gabella und Babarelli wiederum hatten beim letzten Mal die Lega von Matteo Salvini gewählt. Tatsächlich war der Domplatz der lombardischen Wirtschaftsmetropole noch vor kurzem das unbestrittene Revier der beiden Mailänder – jetzt hat die Römerin Meloni aus dem Arbeiterquartier Garbatella sogar in der einstigen Salvini- und Berlusconi-Hochburg die Nase vorn.

Landesweit kommen die Fratelli in den Umfragen auf mehr Prozente als Salvinis Lega und Berlusconis Forza Italia zusammen: Die Meloni-Partei, die bei den letzten Wahlen noch vier Prozent erzielte, liegt nun bei 25 Prozent, die Lega bei 13 und Berlusconis Forza Italia bei acht Prozent.

Vergessen und verraten

Sonntags fanden sich freilich nicht nur ehemalige Salvini- und Berlusconi-Fans auf der Piazza ein. Cosimo Gagliardi ist bekennender Mussolini-Nostalgiker und hat, wie er sagt, sein ganzes Leben lang nichts anderes gewählt als die postfaschistischen Parteien. "Meloni setzt sich für die kleinen Leute und für die Arbeiter ein, nicht wie der Bankier Mario Draghi und die Linke, die die Arbeiter schon lange vergessen und verraten haben", betont der 72-jährige pensionierte Fliesenleger aus Süditalien, der sein Leben lang in Mailand gearbeitet hat. "Giorgia ist richtig gut und zudem eine 'bellissima donna'." Und sie habe sich geweigert, die Flamme aus dem Parteilogo zu entfernen – ganz im Unterschied zu Gianfranco Fini, der seine Partei auf die Demokratie verpflichtet und den Faschismus als das "absolut Böse" bezeichnet hatte.

Aber wie halten es die Meloni-Wählerinnen und -Wähler auf der Piazza del Duomo nun wirklich mit dem Faschismus und der Diktatur? Der frühere Lega-Wähler Gabella sagt: "Hier will niemand den Faschismus zurück, wir Italiener sind doch nicht blöd. Meloni war noch nicht einmal geboren, als in Italien die Faschisten an der Macht waren. Mit diesem Regime hat sie nichts am Hut."

Sein eigener Vater dagegen, erzählt Gabella, sei im Krieg bis zuletzt Mussolini-Anhänger gewesen und habe auch nach der militärischen Kapitulation Italiens im Jahr 1943 weiter für die faschistische Sozialrepublik von Salò, Mussolinis Marionettenstaat von Hitlers Gnaden in Norditalien, gekämpft – gegen die Alliierten, aber vor allem gegen die Partisanen der Resistenza. "Hört endlich auf mit dem Gerede vom wiederkehrenden Faschismus, die Leute können den Quatsch nicht mehr hören", sagt Cazzullo.

Nicht aufgearbeitet

In der Tat bestehe kaum die Gefahr, dass Italien im Jahr 2022 wieder in die Diktatur zurückfalle, betont der Publizist und Vizedirektor des Mailänder Corriere della Sera. Aber in Italien sei die Geschichte des Faschismus, der in den letzten zwei Jahren des Kriegs zu einem Bürgerkrieg geworden war, eben nie richtig aufgearbeitet worden.

Die geschehenen Gräuel würden von vielen Italienern verdrängt, betont Cazzullo. "Um diese zu vergessen, haben wir uns eine tröstliche und uns selber entlastende Geschichte erfunden: Wir stellen uns den Duce staatsmännisch vor, viril, ehrlich, streng, aber gerecht, ein Verführer und gleichzeitig guter Familienvater." Einer, der Sümpfe trockengelegt habe und unter dem die Züge pünktlich gewesen seien. Den Einwand von Umberto Gabella, wonach es auch unter den Faschisten Patrioten gegeben habe, höre man oft.

"Das bestreitet ja auch gar niemand", betont Cazzullo: "Auf beiden Seiten gab es sowohl anständige als auch böse Menschen. Aber die einen standen auf der richtigen Seite, die anderen auf der falschen. Das wollen leider viele bis heute nicht einsehen." Der Faschismus sei eine Schande gewesen.

Kein einschlägiger Gruß

Als Giorgia Meloni unter den Klängen der italienischen Nationalhymne endlich auf der Bühne erscheint, jubeln ihre Anhänger: "Giorgia, Giorgia, Giorgia!" Den früher an Parteianlässen der Fratelli d’Italia oft gesehenen "römischen Gruß" – er entspricht dem Hitlergruß – zeigt niemand: Eine entsprechende parteiinterne Weisung zeigt Wirkung – man will die moderaten Wählerinnen und Wähler und das Ausland nicht unnötig verschrecken. Erst am Dienstag wurde ein Kandidat suspendiert, nachdem bekannt geworden war, dass er in einem Posting Adolf Hitler gelobt hatte.

Zum Schluss ihres dreiviertelstündigen Auftritts erklärt Meloni, sie sei bereit, die Regierung Italiens zu führen – und sie fragt ihre Fans, ob sie ebenfalls bereit seien für ein anderes Italien. Erneut ertönt begeisterter Jubel auf der von der inzwischen untergehenden Sonne spektakulär beleuchteten Piazza del Duomo: "Siamo pronti, Giorgia!" (Dominik Straub aus Mailand, 21.9.2022)