Haarlinie korrigiert, Körper trainiert: Édouard Louis.

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Ich wollte es aus Rache zu etwas bringen." Es sind die großen Gefühle, die Édouard Louis antreiben, seitdem er mit gerade einmal 23 Jahren seinen ersten autofiktionalen Roman auf den Markt brachte und im Handumdrehen zum Schriftstellerstar wurde. Der Zorn auf seine Kindheit in der nordfranzösischen Gosse, die Wut auf den trinkenden, schlagenden, brüllenden Vater, die Empörung über eine Gesellschaft, die all dies zulässt: Mit Das Ende von Eddy rüttelte Louis 2014 eine literarische Öffentlichkeit auf, die gleichermaßen fasziniert wie verwundert auf die Lebensschilderungen eines jungen Mannes blickte, der Narrative wie jene von Wohlfahrtsstaat oder Chancengleichheit regelrecht zertrümmerte.

Seitdem sind acht Jahre vergangen, und Louis hat eine ganze Reihe von Büchern veröffentlicht, die im Grunde eine Variation seines ersten autobiografischen Romans sind. Auch mit dem gerade erschienenen Band Anleitung ein anderer zu werden verhält es sich nicht viel anders. Wieder umkreist Louis die Zumutungen seiner Kindheit und die Zurichtungen eines auf Segregation angelegten Bildungssystems.

Bildungsbürgerliche Vorlage

Die schonungslose, in knappen, nüchternen Sätzen gehaltene Beschreibung der Vergangenheit ist diesmal aber weniger Anklage als der Versuch zur Selbstbefreiung oder besser gesagt zur Selbstfindung. Dass sich diese in der Imitation einer bildungsbürgerlichen Vorlage erschöpft, mag man konventionell finden, hat in der französischen Literatur aber eine lange Tradition.

Louis lässt "auf der Suche nach Freiheit" seine proletarischen Wurzeln hinter sich, um nach und nach Teil des französischen Bildungsbürgertums zu werden. Er trainiert sich sein lautes Lachen und den nordfranzösischen Akzent ab, lernt, mit Gabel und Messer umzugehen, und als er einen reichen Sponsor kennenlernt, lässt er sich seine Zähne richten. Aus Eddy wird auf Vorschlag der Mutter seiner besten Freundin Édouard – ein Mann, der sich eine Krawatte binden kann und es auf eine der besten Unis Frankreich schafft, der sich von reichen, älteren Männern aushalten lässt und bald genauso über sündteure Weine wie über Massenet parliert.

Vater als Ansprechperson

Die Menschen, die er bei dieser Bildungsreise hinter sich lässt, sind die direkten Ansprechpartner des Erzählers, sei es der Vater, der nach wie vor ein Stachel in dessen Fleisch ist, sei es Elena, mit deren Hilfe es der Protagonist durch die Schule in Amiens schafft und die ihm gemeinsam mit ihrer Mutter eine Welt des Intellekts und der Künste offenbart.

Es sind allerdings der Soziologe Didier Eribon (Rückkehr nach Reims) und dessen Freund Geoffrey de Lagasnerie, die dem blutjungen Louis erst eine wirkliche Perspektive geben. Die Freundschaft zu ihnen ermutigt ihn zur Lektüre-, dann zur Schreibarbeit, die in der Publikation des ersten, mittlerweile in 35 Sprachen übersetzten Buches mündet. "Ich hielt in Harvard, Berkeley und an der Sorbonne Vorträge und war von diesem Leben erst beeindruckt, dann genervt, dann angewidert."

Sexuelle Identitätsfindung

In die Schilderung seiner "éducation bourgeoise", die eng mit seiner sexuellen Identitätsfindung verbunden ist, mischen sich bei Louis viele zweifelnde Töne. Die Selbstfindung kann auch nahe an der Selbstverleugnung sein, jeder Neuanfang ist ein Abschiednehmen und manchmal sogar ein Verrat. Louis geht auch in diesem Buch zweifelnd und schonungslos mit sich und seiner "Anleitung" um. Darin liegt dessen Stärke. Langsam würde man sich aber neue Themen wünschen. (Stephan Hilpold, 21.9.2022)