Das Büro der Historikerkanzlei befindet sich hoch über dem Karl-Lueger-Platz in der Wiener Innenstadt. Während man in einem Besprechungszimmer des Jugendstilgebäudes auf den Genealogen Lukasz Nieradzik wartet, schweift der Blick über den Platz bis hinüber zum Stadtpark. Der Gastgarten des Café Prückel füllt sich an diesem sonnigen Spätsommermorgen langsam mit Gästen. Die Angestellten bei den Blumenkiosken an der Ringstraße zupfen Sträuße zurecht, der Besitzer des Eissalons denkt wahrscheinlich vorfreudig an die dräuende Winterpause, und Karl Lueger steht noch immer auf seinem Sockel.

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Lukasz Nieradzik ist Genealoge und forscht nach Vorfahren und Verwandten.
Fotos: Getty; Historikerkanzlei

Ein Mitarbeiter der Kanzlei kommt schließlich den Gang entlang und serviert Kaffee. Auf dem großen Glastisch liegt fein säuberlich getürmt, neben allerlei Broschüren, eine Pressemappe, gefüllt mit Zeitungsausschnitten. Einer davon berichtet vom sogenannten Millionensandler, einem Obdachlosen, der angeblich drei Jahrzehnte lang in Großbritannien in Lumpen gehüllt in einem Zelt auf einer Verkehrsinsel hauste und gleichzeitig hunderttausende Pfund auf dem Konto hortete. Nach seinem Tod erbte eine Verwandte, eine Mindestrentnerin aus Wien, 33.000 Euro von ihm. Auf ihre Spur kam laut dem Artikel das Team der Historikerkanzlei.

Noch bevor im Mäppchen weitergeblättert werden kann, taucht Lukasz Nieradzik im Besprechungszimmer auf, nimmt Platz und gibt gut gelaunt Auskunft. Zuerst einmal über die Frage, was er und die Belegschaft der Kanzlei den ganzen lieben Tag lang so tun. Das Unternehmen, das 2005 in Wien gegründet wurde, beschäftigt 60 Leute, die Genealoginnen und ihre Kollegen haben in der Regel Geschichte, Translations- oder Sprachwissenschaften studiert. Unterhalten werden Dependancen in Form von Tochterfirmen in Linz, Klagenfurt, Innsbruck, Graz, ferner in Ungarn, Kroatien, Rumänien, Italien und auch in den USA, in der Nähe von Washington.

Auf eigene Faust

Nieradzik erzählt vom Aufgabenfeld der Erbenermittlung: "In diesem Fall bedienen wir uns öffentlicher Erbschaftsaufrufe, sogenannter Edikte, die durch ein Gerichtskommissariat veröffentlicht werden." Zu Deutsch: Es fehlt ein Erbe oder eine Erbin. Jemand stirbt und hat Hausnummer eine Million auf dem Konto. "Oder Schulden", wie Nieradzik nachschießt. Das Team der Kanzlei weiß zu Anfang der Recherche nicht, was oder wie viel vererbt wird. In diesem Fall arbeitet das Team auf eigene Faust. Es kann aber auch sein, dass Notariate auf das Team zukommen. Die Höhe einer Provision hängt vom Umfang der Recherchen ab und liegt zwischen zehn und 35 Prozent der Erbsumme, wobei es auch Fälle gebe, die lediglich Kosten verursachen.

Auf dem Tisch, an dem Nieradzik Auskunft gibt, liegt auch ein Stapel mit Büchern, die von der Kanzlei herausgegeben werden. Ihr Titel lautet "Die weltweite Jagd nach Erben – Genealoginnen und Genealogen erzählen ihre spannendsten Geschichten". Eine Story trägt die Überschrift "Das Erbe des Guru", eine andere heißt "Eine Frau ohne Geburtstag".

Im Beitrag mit dem Titel "Der Erbonkel aus Australien" beschreibt die Genealogin Barbara Möstl eine von vielen Spurensuchen. Ein Mann war 2019 in Australien verstorben, in Deutschland sollte Möstl nach "nächsten Anverwandten" suchen. Ein angeblicher Bruder und auch dessen Frau waren bereits verstorben. Sie berichtet von Spuren der Familie ins heutige Litauen, erwähnt eine Heimkehr aus Kriegsgefangenschaft, Verwandte im Kinderheim, Scheidungen, eine Heirat auf dem Sterbebett, Demenz, Hilfsorganisationen, unzählige Urkunden, einen Suizid, Adoptionen, und man bekommt rasch einen Eindruck, wie komplex, schwierig und gleichzeitig drehbuchreif die Arbeit einer Genealogin sein kann. Unterm Strich konnten im Rahmen der Recherche Nachkommen ausgemacht und eine "nicht unbeträchtliche" Erbschaft übergeben werden, durch die auch die sterblichen Überreste des Verstorbenen in seine ursprüngliche Heimat Deutschland überführt werden konnten.

Spurensuche

Gesucht werden Erben von Fall zu Fall verschieden. Die klassische Spurensuche erfolgt unter anderem über Kirchenbücher, Taufbücher, Adressbücher, Heiratsbücher, Sterbebücher oder Telefonbücher. Die Wienbibliothek zum Beispiel stellt "Adolf Lehmanns allgemeinen Wohnungs-Anzeiger" digital zur Verfügung. Das ist eine Art Vorläufer des "Herold" und geht bis ins Jahr 1859 zurück. Auch Totenbeschauprotokolle, die im Stadtarchiv liegen, können weiterhelfen, genauso wie Grundbücher. "Manchmal geht es schneller, manchmal langsamer, manchmal finden wir gar nichts, und sogar Plattformen wie Facebook haben schon weitergeholfen. Vor allem wenn es sich um jüngere Personen handelt." Rechtliche Grenzen lägen vor allem in den verschiedenen Fristen des Datenschutzes. Der Forscher tut sich schwer, eine prozentuelle Trefferquote festzulegen, weiß aber, dass die Kanzlei pro Jahr circa 300 Fälle solcher Art im In- und Ausland löst.

Ob sein Job mit der Arbeit an einem Puzzle zu vergleichen ist, will man wissen. "Im Prinzip ja, auch wenn es manchmal auf den ersten Blick so aussieht, als würden zwei Teilchen zusammenpassen, aber dann kommt ein Teilchen dazu, das noch besser passt." Will sagen, dass die Kanzlei zuerst einen Erbberechtigten, sagen wir Großcousin, findet, später taucht dann allerdings eine Cousine auf, die natürlich näher am Erbkuchen dran ist. Nieradzik gefällt vor allem die detektivische Komponente seines Jobs. Eine gewisse historisch-archivarische Leidenschaft müsse man auch mitbringen.

120 Euro pro Stunde

Ein weiteres großes Feld, das die Kanzlei beackert, ist jenes der Familienforschung. Menschen suchen nach ihrer Biografie, wollen die Verästelungen ihres Stammbaums erforschen und berappen dafür einen ungefähren Richtwert von 120 Euro pro Stunde. Gerade bei diesem Angebot kommt es klarerweise darauf an, ob das Historikerteam lediglich nach Oma und Opa suchen soll oder sich die Suche nach Stammbaumverästelungen über zehn Generationen ausdehnt. Teurer wird die Chose freilich auch, wenn ausländische Archive eingeschaltet werden müssen. Wie auch immer, die Historiker vom Lueger-Platz schlagen in einem solchen Fall vor, konkrete Pakete zu schnüren.

Nieradzik sagt, dass vor allem ältere Menschen verstärkt Interesse dafür zeigen, sich mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen. Warum das so ist, weiß selbst der Fachmann nicht. "Dabei handelt es sich um eine soziokulturelle Dimension, da möchte ich mich jetzt nicht küchenpsychologisch dahinterklemmen", sagt er. Der Vorteil bei der Familienforschung liege darin, dass es sich um die konkrete Suche nach Personen handelt, bei der Erbermittlung sei mitunter mehr Kondition und Frusttoleranz vonnöten. Anders gesagt: Der Heuhaufen, in dem sich die Nadel versteckt, ist größer. Falls überhaupt eine Nadel existiert. Es können aber auch mehrere sein. Und dann wird es kompliziert.

Blutlinien und Stammbäume

Ferner im Programm der Kanzlei: Heraldik, Hotel- und Firmengeschichte, Ortschroniken, Nachforschungen für Filmproduktionen oder Schriftsteller, Transkription und Erläuterung von älteren Schriftstücken, Stammbaumerstellung und noch mehr. Ebenso arbeitet die Kanzlei kostenlos auf dem Gebiet der Stammzellentherapie, indem sie nach Angehörigen von Personen sucht, die einer entsprechenden Behandlung bedürfen. Hinzu kommen auch immer wieder Anfragen von Personen, die in Erfahrung bringen wollen, ob in ihrer Verwandtschaft bestimmte Erbkrankheiten vorgekommen sind.

Bei der Frage, was es über einen Menschen aussagt, wenn er sich nicht für seine Herkunft interessiert, zuckt der Generationenforscher mit den Schultern. "Ich möchte nichts verallgemeinern, Perspektiven und Logiken sind verschieden. Wenn einem sein Stammbaum nicht am Herzen liegt, ist das meiner Meinung nach nicht mit einem Desinteresse gegenüber der eigenen Biografie oder Geschichte gleichzusetzen. Vielleicht entspricht es sogar einer antiquierten Sichtweise, Verwandtschaft nur über Blutlinien zu definieren. Die soziale Wirklichkeit sieht doch ganz anders aus." Ob er selbst, mit seinen Möglichkeiten, einen Stammbaum für seine Familie erstellt habe? "Nein, manchmal frage ich mich eh, warum."

Auf dem Weg zurück in die Redaktion fällt einem ein, dass eine Tante einmal erwähnte, dass ein Urgroßonkel in der altösterreichischen Tschechoslowakei Textilunternehmer gewesen sei und in einem luxuriösen Schloss gehaust habe. Die Tante ist inzwischen verstorben. Vielleicht sollte man sich mal einen privaten Termin bei Herrn Nieradzik ausmachen. Mal sehen. (RONDO, Michael Hausenblas, 18.10.2022)