Es gibt Streitfragen, in denen sich Eltern und Kinder nie einig sein werden. Bei Schlafenszeiten oder der Gewichtung von Gemüse versus Süßigkeiten im Speiseplan. Und natürlich: in welchem Ausmaß der Nachwuchs selbst über die Gestaltung der Haarpracht entscheiden darf. Besonders die Farbfrage sorgt für Unstimmigkeiten am Familientisch. Denn nicht erst seit Billie Eilishs ikonischem giftgrünen Ansatz gilt für viele Teens: je bunter, desto besser. Meine Mutter antwortete auf etwaige Anfragen zu Umfärbungen meist mit: "Die Haare wirst du dir noch lang genug färben." Sie meinte damit, dass ich als Frau meine irgendwann ergrauende Mähne wohl oder übel später viele Jahre lang umfärben würde. Warum also als Teenager schon herumklecksen?

Bei der Jugend wird die gefärbte Haarpracht zum Zeichen der Individualität.
Foto: Eylül Aslan

Heimlicher Helfer

Zugegeben: Meine Mutter hat den Hauptzweck der Haarfarbe als Anti-Aging-Mittel nicht im Alleingang etabliert. Dazu ein kurzer Rückblick: Die erste moderne Haarfarbe brachte Eugène Schueller im Jahr 1907 auf den Markt. Er nannte die Tinktur "Auréole" – also Strahlkranz oder Heiligenschein. Später wandelte er den Namen ab und benannte sein Unternehmen danach: L’Oreal – heute der größte Kosmetikhersteller der Welt – war geboren.

Die Idee hinter den Haarfärbemitteln war, optisch dem Alter ein Schnippchen zu schlagen. "Plus un cheveu blanc, toujours trente ans", warb L’Oreal 1926: "Kein graues Haar mehr, für immer 30 Jahre alt". Klare Zielgruppe waren Frauen, und bis heute färben sich fast drei Viertel der Frauen die Haare. Bei Männern sind es dagegen nur etwa zehn Prozent. Die meisten tun es heute wie damals eher unauffällig. So boten angeblich manche Friseursalons in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar einen Eingang durch die Hintertüre an, damit niemand sie dabei beobachten konnte, wie sie auf dem Kopf die Zeit zurückdrehten. Diese Heimlichtuerei mag heute nicht mehr nötig sein, doch noch immer werden viele Haarfärbepräparate mit einem möglichst "natürlichen Ergebnis" beworben. Haare zu färben ist für die meisten über 35-Jährigen ein nötiges Übel, um der gängigen, altersfeindlichen Schönheitsnorm zu entsprechen.

Ehrliche Experimente

Teenager sehen im Haarefärben dagegen etwas ganz anderes. Wer sich auf der Kurzvideoplattform Tiktok umsieht, stößt auf Experimente von "Rainbow Hair" bis hin zu eingefärbten Herzchen. Die Generation Z entwickelt weiter, was zuvor Punks, Goths oder Emos auf ihren Köpfen kreierten. Haarfarbe dient nicht der Anpassung an eine gesellschaftliche Norm. Stattdessen stehen der Spaß am Ausprobieren und ein wenig Rebellion im Vordergrund. Und am Ende sind Farbexperimente dank heute verfügbarer ungiftiger Farbpräparate sogar besonders harmlose Jugendsünden. Während die meisten Erwachsenen ihren Eltern für das Nein zu Tattoos im Nachhinein dankbar sind, können sie am jeweiligen Frisurfiasko auf dem Jugendfoto das Entstehungsjahr desselben festmachen. Schön war es im Nachhinein betrachtet vielleicht nicht – aber am Ende sind es ja doch nur Haare! (RONDO Exklusiv, Antonia Rauth, 11.10.2022)