Wasserdampf steigt aus dem Kühlturm des Atomkraftwerks Isar 2. Zwei der drei letzten deutschen Atomkraftwerke sollen noch bis Mitte April 2023 als Reserve zur Verfügung stehen.

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"Nein!" – "Doch!" – "Oh!" Der berühmte Dialog aus vielen Filmen des französischen Komikers Louis de Funès fasst die Geschichte des deutschen Atomausstiegs gut zusammen. Wobei das "Oh!" wahlweise auf die Pointe anzuwenden ist, dass Atomkraft neben Erdgas in der heuer beschlossenen EU-Taxonomieverordnung nun als "grün" eingestuft wurde, oder auf die Wendung, dass die deutschen Reaktoren vielleicht doch nicht wie beschlossen Ende 2022 abgeschaltet werden. Mit der Energiekrise nach Russlands Angriff auf die Ukraine und die darauffolgenden Sanktionen ist das fixe Aus ins Wanken geraten.

Die Bewertung der Atomkraft als klimafreundliche Übergangstechnologie und die Bedeutung eines Weiterbetriebs der deutschen Anlagen waren auch Themen beim diesjährigen Wiener Nuklearsymposium, das vergangene Woche an der Wiener Universität für Bodenkultur (Boku) stattfand. Der Titel des Events "Kernenergienutzung in Deutschland 2022 – das Ende einer Ära" verweist auf eine Bilanz. Die ebenfalls behandelte mögliche Weiternutzung deutscher AKWs, die umstrittene EU-Klassifizierung und nicht zuletzt die Bedrohungen, die derzeit von den Nuklearanlagen in ukrainischen Kriegsgebieten ausgehen, zeichnen aber auch das Bild einer sehr unsicheren Zukunft.

Mehrere Störfälle in Deutschland

Dieter Majer war als Beamter im deutschen Umweltministerium lange Zeit für die Sicherheit kerntechnischer Anlagen verantwortlich. Der Vortrag des 76-Jährigen startet mit der Technologiebegeisterung der 1950er-Jahre. Damals träumte man noch von atomgetriebenen Haushaltsgeräten. Der Bundestag debattierte darüber, ob Deutschland nicht doch die Atombombe braucht.

Die Entscheidung der EU, Atomkraft als klimafreundliche Übergangstechnologie zu bewerten, sorgt seit Monaten für Unverständnis.
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Packend ist der Einblick, den Majer in die "Sicherheitsprobleme" der deutschen Anlagen gibt. Die Störfälle in den AKWs in Brunsbüttel, Biblis und Philippsburg tauchen in der heutigen Atomdebatte nicht mehr oft auf. Sie waren aber ein wichtiger Faktor für den Start des Ausstiegsprozesses durch die erste rot-grüne Regierung Deutschlands im Jahr 2000.

In der verdichteten Darstellung des Ex-Beamten wird die Geschichte der Störfälle zur verstörenden Abfolge von Beinahekatastrophen mit Wasserstoffexplosionen und stark beschädigten Reaktorkühlungen. Dazu kommen Fehlentscheidungen und Verschleierungsversuche durch ignorante AKW-Betreiber, die gerne auch Personal entließen, wenn es Sicherheitslücken ansprach.

"In Deutschland war es Glück, dass es nicht zu schweren Unfällen gekommen ist. Ich könnte noch dutzende Beispiele zeigen, die diese These unterstützen", sagt Majer, der auch Mitglied der International Nuclear Risk Assessment Group (INRAG) ist. Auch interessant: Beim Störfall des AKWs Forsmark 2006 in Schweden gab es bereits internationale Warnanrufe, die auf eine mögliche Katastrophe hinwiesen – die dann aber noch abgewendet werden konnte.

Krieg, Terror, Klima als Sicherheitsfaktoren

Angesichts des möglichen Weiterbetriebs von AKWs als Antwort auf die Energiekrise analysiert Manfred Mertins von der Technischen Hochschule Brandenburg, inwieweit das aus sicherheitstechnischer Sicht machbar wäre. Immerhin liegen die noch laufenden AKWs bereits jetzt am Ende ihrer Auslegungsdauer. Bereits beschlossen wurde, dass zwei der drei derzeit noch aktiven Anlagen als "Einsatzreserve" bis April 2023 dienen sollen. Gleichzeitig wird auch über umfassendere Lebensdauerverlängerung diskutiert.

Mertins argumentiert, dass nach gegenwärtiger Gesetzeslage für jede Form des Weiterbetriebs eine aufwendige Neugenehmigung erfolgen müsse. Zudem sei eine sicherheitstechnische Gesamtbewertung erforderlich. Diese müsse aktuelle Maßstäbe anlegen, die die Erfahrungen der Reaktorunfälle in Tschernobyl und Fukushima, der mittels schwerer Flugzeuge ausgeführten Terroranschläge von 9/11 und des laufenden Ukraine-Kriegs miteinbeziehen.

Das zerstörte Atomkraftwerk in Fukushima ist bis heute eine Ruine.
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Bisher seltene Extremereignisse könnten durch den Klimawandel zudem häufiger werden. Kombinationen von Natureinwirkungen – von Erdbeben über Hochwasser bis zu Bränden – müssen stärker berücksichtigt werden. Mertins Fazit angesichts der – auch durch Nachrüstungen schwer ausgleichbaren – Mängel der deutschen Anlagen: "Das Sicherheitskonzept der noch in Betrieb befindlichen AKWs ist veraltet und wäre nach aktuellen Maßstäben nicht mehr genehmigungsfähig."

Gerade die Erfahrungen aus der Ukraine lassen infrage stellen, ob ein ausreichendes Sicherheitsniveau für AKWs überhaupt herstellbar ist. Wolfgang Liebert vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Boku skizziert in seinem Vortrag unter anderem potenzielle Folgen der Kriegshandlungen. Für ein Worst-Case-Szenario muss es demnach nicht einmal zu einer gravierenden Beschädigung des Containments, in dem die nukleare Reaktion abläuft, kommen. Eine Beschädigung der Kühlung des – viel weniger gut geschützten – Lagerbeckens für abgebrannte Brennelemente könne bereits zu einer "massiven Radioaktivitätsfreisetzung" führen.

Zementierte Atomkraft

Liebert führt auch vor Augen, was es bedeutet, dass entsprechend der EU-Taxonomieverordnung für die "Erleichterung nachhaltiger Investitionen" bis 2040 Modifikationen existierender Anlagen und bis 2045 neue AKWs genehmigt werden dürfen. Unter anderem werde es Anstrengungen geben, Mittel für massive Laufzeitverlängerungen zu lukrieren – auf 60 Jahre und mehr. Neubauten eingerechnet werde so eine Atomkraftnutzung über die kommende Jahrhundertwende hinaus möglich – für Liebert ein "eklatanter Widerspruch zur Nachhaltigkeitsstrategie" der EU.

Majer, der seine ganze Karriere lang mit AKW-Sicherheit beschäftigt war, hat ein sehr anschauliches Resümee parat: "Ein Mensch mittleren Alters hat mit Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima schon drei Kernschmelzen erlebt. Sie werden auch in Zukunft auftreten. Die Frage ist nur, wo und wann." (Alois Pumhösel, 23.9.2022)