Als Nachfolger von Wolfgang Mückstein ist Rauch mit einem Misstrauensvorschuss in sein Amt gestartet. Ihn selbst wundert das nicht.

Foto: Helena Lea Manhartsberger

Krise und kein Ende: Kaum war die Pandemie im Abklingen, setzte die Preisexplosion ein. Als Minister von beiden Problemen auf Trab gehalten, scheint der seit März amtierende Johannes Rauch in der Sozialpolitik bisher mehr aufzugehen: Mit Korrekturen der Sozialhilfe und dem Einstieg in die Pflegereform gelangen dem Grünen Duftmarken. Umstrittener ist seine Covid-Politik. Erstes Gebot war das Aus für diverse Regeln von der Masken- bis zur Quarantänepflicht.

STANDARD: Sozialmärkte registrieren ebenso einen Massenandrang wie die Essensausgabestellen der Caritas. Als Sozialminister kann Sie das nicht kaltlassen. Was ist bei den Antiteuerungshilfen falsch gelaufen, dass Leute auf private Hilfe angewiesen sind?

Rauch: Daraus lässt sich nicht unbedingt schließen, dass etwas schiefgegangen ist. Ministerkollegen aus anderen Ländern reißen die Augen weit auf, wenn sie hören, was wir in Österreich auf den Weg gebracht haben. Unsere Antiteuerungspakete sind weit umfangreicher als jene Deutschlands und anderer Staaten. Doch selbst diese Hilfen können nicht zur Gänze abfedern, was sich am sogenannten Markt abspielt.

STANDARD: Viele Menschen fühlen sich offenbar alleingelassen.

Rauch: Warum, ist schwer zu erklären. Sicher: Manche Einmalzahlung, die vor dem Sommer beschlossen wurde, kommt erst allmählich auf dem Konto an. Doch unterm Strich erhält eine Durchschnittspensionistin im Laufe des Jahres 1.400 Euro an Hilfen, eine Alleinerzieherin mit zwei Kindern 2.400 Euro.

STANDARD: Hat sich, wie Wifo-Chef Gabriel Felbermayr sagt, eine Vollkaskomentalität breitgemacht?

Rauch: Ich würde sagen, wir beklagen uns auf recht hohem Niveau. Keine Frage: Wer schon bisher wenig hatte, ist natürlich nicht in der Lage, doppelt so hohe Stromkosten zu verkraften. Diesen Personen greifen wir bereits kräftig unter die Arme. Aber wenn die Klage oberhalb der Einkommensmitte immer noch dieselbe ist, kann ich das nicht mehr nachvollziehen. Da hat sich ein flächendeckendes Gefühl breitgemacht, wir würden alle verarmen. Aber das stimmt nicht.

STANDARD: Soll es noch weitere Hilfen und Energiekostenbremsen geben?

Rauch: In einer Abwägung bin ich dafür, in einem weiteren Schritt lieber auf Regulierungen zu setzen. Auf EU-Ebene braucht es Eingriffe in den Strom- und Gasmarkt, um diese völlig absurde Entwicklung in den Griff zu bekommen. Aber auch auf den Ebenen darunter müssen wir handeln.

STANDARD: Inwiefern?

Rauch: Am Immobilienmarkt treibt eine spekulative Blase die Preise, die nichts mit der aktuellen Krise zu tun hat. Ein Gegenmittel sind der Bau von Gemeinde- oder Genossenschaftswohnungen, aber das hat außerhalb von Wien nicht wirklich stattgefunden. Ich halte es für einen Irrtum der Geschichte, dass die Gemeinden über die Flächenwidmung entscheiden – diese Kompetenz müssen wir allmählich überdenken. Die Bürgermeister sind zu nahe dran an den lokalen Interessenlagen, um sich gegen kommerzielle Ansprüche wehren zu können.

STANDARD: Leistungen wie die Ausgleichszulage – eine Art Mindestpension – und die Sozialhilfe liegen unter der Grenze für Armutsgefährdung. Wollen Sie da nicht eingreifen?

Rauch: Die Ausgleichszulage wird im Zuge der jährlichen Pensionsanpassung zusätzlich aufgebessert werden. Die türkis-blaue Sozialhilfe ist der große Schwachpunkt. Wir haben Verbesserungen durchgesetzt, doch eine Generalreform ist mit der ÖVP nicht machbar.

STANDARD: Und das Arbeitslosengeld, das nach dem Wunsch der ÖVP degressiv – also mit sinkender Leistung – gestaltet werden soll?

Rauch: Darüber wird gerade verhandelt. Aber unter die aktuellen 55 Prozent des letzten Einkommens darf es nicht sinken. Das kann ein Sozialminister in Zeiten der Teuerung nicht verantworten. No way!

STANDARD: Die Leute haben Ihnen vom Amtsantritt an misstraut ...

Rauch: ... was ich sehr gut verstehe.

STANDARD: Warum das?

Rauch: Zu sehr hat die Pandemie das gesellschaftliche Klima aufgeheizt. Wer als dritter Gesundheitsminister innerhalb zweier Jahre antritt, hat einen Misstrauensvorschuss.

STANDARD: Aber das ist ja kein Naturgesetz. Wäre alles gut gelaufen, könnte ein Minister auch gut dastehen. Was war der Generalfehler?

Rauch: Wir wussten fast nichts über das Virus, hatten fast keine tauglichen Instrumente – und dazu haben alle noch völlig uneinheitlich kommuniziert: auf EU-Ebene und dann noch einmal auf nationaler Ebene. Die Leute haben sich dann schlicht und einfach nicht mehr ausgekannt.

Düsterer Ausblick in den Herbst? "Der Wunsch nach Planbarkeit in der Pandemie ringt mir inzwischen ein Lächeln ab", sagt Rauch.
Foto: Helena Lea Manhartsberger

STANDARD: Österreich hat zweimal eine desaströse Herbstwelle erlebt, weil die Vorbereitung schlecht war. Diesmal scheint es gleich gar keine Vorbereitung zu geben. Warum?

Rauch: Das ist ein Irrtum. Vom Variantenmanagementplan über wirksame Medikamente bis zur neuen Impfkampagne gab es noch nie so viel Vorbereitung wie heuer. Das Problem ist nur: Wir machen Pläne, doch das Virus hält sich nicht daran. Der Wunsch nach Planbarkeit in der Pandemie ringt mir inzwischen ein Lächeln ab. Laut den Prognosen hatten wir im Sommer eine massive Welle mit bis zu 60.000 Neuinfektionen im Sommer zu erwarten – nichts davon ist eingetreten. Derzeit gehen die Prognosen davon aus, dass diese Wellen eher im Februar oder März stattfinden werden als im Herbst. Aber wir wissen es nicht.

STANDARD: Also fühlen Sie sich in Ihrer Politik des Achselzuckens – was können wir schon tun! – bestätigt?

Rauch: Mein Zugang hat nichts mit Achselzucken zu tun, im Gegenteil: achtsam und sorgfältig sein, aber nicht panisch. Der Modus der Panik führt zu Fehlern und wird auch nicht von der Bevölkerung mitgetragen. Nach zweieinhalb Jahren Pandemie müssen wir unter Beachtung von Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz vulnerabler Gruppen einen Weg finden, einigermaßen klarzukommen. Alles andere geht sich gesellschaftlich nicht mehr aus. Die Kollateralschäden für die psychische Gesundheit wären dann mindestens so schwer wie die Folgen des Virus selbst.

STANDARD: Wenn die Spitäler wieder überfüllt sind, hilft alles nichts: Dann werden Sie reagieren müssen.

Rauch: Wir werden nicht erst reagieren, wenn die Spitäler überfüllt sind – sondern rechtzeitig davor. Aber es gibt derzeit noch kein einziges Indiz, dass es noch einmal so weit kommen könnte. Die aktuellen Zahlen des Covid-19-Registers belegen, dass die Hälfte aller im Spital gezählten Covid-Patienten eigentlich nicht wegen des Virus dort ist.

STANDARD: Sie haben empfohlen, in Innenräumen wieder Maske zu tragen. Wenn das hilfreich wäre: Warum verordnen Sie das dann nicht?

Rauch: Weil ich aktuell noch keinen Anlass sehe, mit einer Verordnung hineinzufahren. Ich muss mir die schärferen Instrumente für den Zeitpunkt aufheben, wenn es die Lage wirklich erfordert. Ich habe aber auch von Anfang an dazugesagt: Wenn es nötig wird, werden wir die Maskenpflicht auch wieder einführen.

STANDARD: Wenn Sie wollen, dass sich die Leute auf der Autobahn an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten, stellen Sie auch Radarfallen auf und strafen, statt gut zuzureden.

Nach zweieinhalb Jahren Corona-Krise zweifelt der Gesundheitsminister am Sinn verordneter Maßnahmen: "Die Kausalität ist nicht so eindeutig. Wir hatten im europäischen Vergleich über die Pandemie hinweg mit die schärfsten Regeln und die größten Ausgaben für Tests – gemessen an den Ergebnissen liegen wir aber nur im Mittelfeld."
Foto: Helena Lea Manhartsberger

Rauch: Der Großteil der Menschen braucht den Zwang nicht, weil sie sich vernünftig verhalten. Es ist eine Irrmeinung, dass sich 80 Prozent böswillig oder falsch verhalten.

STANDARD: Na ja, der Appell an die Eigenverantwortung ist in der Pandemie oft ziemlich folgenlos verhallt.

Rauch: Dann werden wir die Eigenverantwortung wieder lernen müssen, das kann ich den Österreicherinnen und Österreichern nicht ersparen. Bei der Tagung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Israel habe ich Verblüffendes gelernt: Wir sind das einzige Land, in dem Covid noch derart die öffentliche Debatte bestimmt. Anderswo stehen bereits andere Themen wie etwa Krebs- und Suchtbekämpfung oder die Digitalisierung des Gesundheitswesens im Vordergrund.

STANDARD: Woran kann das liegen?

Rauch: Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es, überspitzt gesagt, eine gewisse Lust an der Katastrophe.

STANDARD: So harmlos ist die Pandemie doch immer noch nicht: Als im Frühjahr alle Regeln gefallen waren, gab es prompt eine Übersterblichkeit. Der Preis ist also durchaus hoch.

Rauch: Die Kausalität ist nicht so eindeutig. Wir hatten im europäischen Vergleich über die Pandemie hinweg mit die schärfsten Regeln und die größten Ausgaben für Tests – gemessen an den Ergebnissen liegen wir aber nur im Mittelfeld. Auch die Übersterblichkeit lag in etwa im europäischen Durchschnitt. Ich mache mir im heurigen Winter mindestens so viel Sorgen wegen der Influenza: Die großen Grippewellen verursachten in der Vergangenheit Sterberaten, die an die Covid-Dimensionen heranreichten.

STANDARD: Was wollen Sie dagegen tun?

Rauch: Seit Beginn der Pandemie ist die Nachfrage gestiegen, dafür haben wir ausreichend Impfstoff zur Verfügung. Für die Zukunft wird die Influenza-Impfung als österreichweites kostenloses Angebot im öffentlichen Impfprogramm enthalten sein. Möglich ist das aber erst ab Herbst 2023, weil die Ausgaben dafür im Budget der Sozialversicherung verankert werden müssen.

STANDARD: Sie haben den Gesundheitsminister Israels, das bei der Corona-Politik lange als Vorreiter galt, getroffen. Haben Sie etwas gelernt?

Rauch: Ich habe überprüft, ob ich auf dem Holzweg bin – und fühle mich in meinem Kurs bestätigt. Israel macht in etwa dasselbe, auch da lautet die Parole: bitte keine Lockdowns, keine Schulschließungen mehr. Die Maßnahmen haben ebenso stark nachgelassen wie die Kontrollen.

STANDARD: Hat sich mit der Lockerung der Regeln auch die Aggression gegen Politiker gelegt?

Rauch: Ich glaube, dass sich die Situation etwas entspannt hat, aber natürlich gibt es noch Anfeindungen. Ich habe Personenschutz abgelehnt, denn ein Stück möchte ich mich auch stellen: Wenn ich auf der Straße verbalen Attacken ausgesetzt bin, gibt es eine Antwort. Als ehemaliger Sozialarbeiter fühle ich mich gut gewappnet. (Gerald John, 22.9.2022)