Ein heißer Herbst steht bevor: Beginn der Metaller-Lohnverhandlungen am 19. September

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10,6 Prozent. So viel verlangen die Metaller an Lohnerhöhung in den laufenden Kollektivvertragsverhandlungen. Die hohe Forderung lässt Arbeitgebervertreter schlucken. Mit weiteren harten Verhandlungen ist zu rechnen.

Grundsätzlich ist die hohe Forderung der Gewerkschaft aber nicht überraschend. Gemäß einer jahrzehntealten Praxis orientieren sich Arbeitnehmervertreter bei Lohnforderungen an zwei Größen – die beide zurzeit exorbitant ausfallen: Da wäre einmal die Inflation, derzeit rekordhoch, die sie abgegolten haben wollen. Und weiters gibt es das Wirtschaftswachstum, konkret jenes des Bruttoinlandsprodukts (BIP), also der Summe des Werts aller Güter und Dienstleistungen, die pro Jahr in Österreich hervorgebracht werden. Dieses Wachstum kann sich heuer ebenfalls sehen lassen, mit schätzungsweise 4,3 Prozent, auch wenn es wegen der Energiekrise bald absacken könnte. An diesem Zuwachs wollen die Beschäftigten ihren Anteil – sonst würde alles als Profit bei Unternehmen verbleiben.

Debatte um die Statistik

Nun ist allerdings eine Debatte um die Statistik ausgebrochen, die politisch und wirtschaftlich noch Folgen haben könnte. Sie hat mit ebendiesem BIP-Wachstum zu tun, das bei Lohnverhandlungen als Grundlage dient. Aufgebracht hat die Diskussion einer der bekanntesten Ökonomen des Landes, Gabriel Felbermayr, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) in Wien.

Die Forderungen sind hoch wie lange nicht – weil auch Inflation und Wachstum derzeit besonders hoch ausfallen.

Es geht, grob gesagt, darum, welches BIP-Wachstum die Arbeitnehmer als Basis ihrer Lohnforderungen heranziehen. Konkret dreht sich die Debatte um einen Wert namens "BIP-Deflator", der dazu führt, dass das Wirtschaftswachstum statistisch höher wirkt, als es ist. "Was es bei Lohnverhandlungen zu verteilen gibt, ist kleiner, als die BIP-Zahlen glauben machen", sagt Felbermayr. "Dieses Faktum sollte bei den Forderungen der Gewerkschaft nicht unberücksichtigt bleiben."

"Kleiner, als die BIP-Zahlen glauben machen"

Was hat es mit diesem BIP-Deflator auf sich? Die Angelegenheit ist komplex, betrifft aber potenziell die Lohnentwicklung von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Land.

Man muss etwas ausholen, um das BIP-Wachstum und seine Rolle für Lohnverhandlungen zu verstehen. Es gibt genau genommen zwei Varianten des BIP: das nominale und reale. Das reale BIP ist im Gegensatz zum nominalen inflationsbereinigt. Wenn Gewerkschaften auf Basis der BIP-Entwicklung Forderungen stellen, beziehen sie sich stets auf das reale BIP.

"Was es bei Lohnverhandlungen zu verteilen gibt, ist kleiner, als die BIP-Zahlen glauben machen", sagt Gabriel Felbermayr.
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Aber wie berechnet man nun dieses reale BIP? Man sollte meinen, dass einfach die gewöhnliche jährliche Inflationsrate, der Verbraucherpreisindex, vom nominalen BIP abgezogen wird. Das ist aber nicht so: Stattdessen wird der sogenannte BIP-Deflator zur Ermittlung des realen BIP herangezogen. Er kann sich – und hier liegt der Kern der Sache – gehörig von der gängigen Inflationsrate unterscheiden.

Die Sache mit dem Deflator

Warum zieht man nicht einfach die normale Inflationsrate vom nominalen BIP ab? Das BIP ist der Wert aller Güter, die produziert werden – aber nur im Inland. Will man hier korrekt die Teuerung herausrechnen, darf man dafür nicht die gesamte Inflationsrate nehmen, sondern nur jene, die bei Gütern aus dem Inland aufgetreten ist. Die gewöhnliche Inflationsrate berücksichtigt nämlich Preissteigerungen bei allem, was in Österreich konsumiert wird – ob es nun aus dem In- oder Ausland stammt: von der heimischen Wurst über das Auto aus Deutschland bis hin zum Gas aus Russland. Im BIP-Deflator hingegen wäre nur die Wurst inkludiert.

All das ist in gewöhnlichen Jahren ziemlich irrelevant. Üblicherweise unterscheidet sich die Inflation bei inländischen und bei importierten Gütern kaum. Seit dem Ukraine-Krieg und der Energiekrise allerdings klaffen die Werte auseinander: Die Inflation bei importierten Gütern ist höher als bei inländischen. Hauptgrund sind die Öl- und Gaskäufe aus dem Ausland, bei denen die Preissprünge am extremsten sind. Im zweiten Quartal des heurigen Jahres beispielsweise betrug Österreichs BIP-Deflator 4,5 Prozent. Die Inflationsrate hingegen fiel mit 7,9 Prozent fast doppelt so hoch aus.

Werte klaffen auseinander

Fazit: Aus dem inflationsbereinigten, realen BIP ist gar nicht die komplette Inflation herausgerechnet. Es lässt hohe Summen unberücksichtigt, die Österreichs Unternehmen an ausländische Lieferanten zahlen müssen, vor allem für Energie. "Der wirtschaftliche Kuchen, den sich Arbeitgeber und -nehmer aufteilen, ist kleiner, als wir glauben", sagt Felbermayr.

Der Verbraucherpreisindex steigt stark, der BIP-Deflator bleibt zurück.
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Was meint die Gewerkschaft dazu? Soll sie wegen des Auseinanderklaffens von BIP-Deflator und Inflation ihre Lohnforderungen zurückschrauben? "Diese Diskussion beruht auf einer sehr statischen Betrachtungsweise", sagt Helene Schuberth, Chefökonomin des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB). Tatsächlich hätten viele Unternehmen schon vor Beginn der Energiekrise begonnen, die Preise zu erhöhen – über die gestiegenen Energie- und Rohstoffkosten hinaus. Dass sie ihre Gewinne zulasten der Konsumenten angehoben hätten, sei unter anderem aus jüngsten Quartalsberichten von Unternehmen ersichtlich. "Die geforderten Lohnerhöhungen können deshalb in den Gewinnen der Unternehmen durchaus überwiegend absorbiert werden." Das heißt, es geht sich laut ÖGB für Unternehmen locker aus, die Löhne kräftig zu erhöhen. Laut Schuberth ist dies auch nötig, um die Kaufkraft zu erhalten – zur Stützung der Wirtschaft, weil sich das Wachstum bald abschwächen könnte. Klingt also nicht danach, als würde die Gewerkschaft so bald von ihrer üblichen Praxis abrücken. (Joseph Gepp, 22.9.2022)