Gestrichene Flüge, Hotels ohne Personal und explodierende Mietwagenpreise – das kann einen verunsichern im Urlaub. Mich hat aber eine andere Form der Ungewissheit auf Reisen restlos begeistert in diesem Sommer. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir nach zwei Jahren Pandemie und einem uniformen Leben voller Verordnungen bewusst vorgenommen habe, heuer auf Reisen so wenig wie möglich zu planen. Zugegebenermaßen funktioniert das mit einem Camper besser als im Ferienflieger. Also habe ich für meine Lieben und mich einen gemietet und bin in Richtung Norden aufgebrochen.

Links oder rechts? Den Zufall auf Reisen entscheiden zu lassen, gehört zu den besten Garanten für Entspannung.
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Steht da wirklich eine Birke mitten auf der Straße? Wie ein grünes Stoppschild baut sich der Baum vor der Kühlerhaube des Wohnmobils auf und teilt die schnurgerade Straße durch Norwegen in zwei Wege. Schon kommt die Frage meiner Frau: "Links oder rechts?" Das Navi behauptet, es gebe hier überhaupt keine Gabelung, und mir ist die grüne Wüste aus Farnen und Flechten um Oppdal so vertraut wie jene um Ottawa – nämlich gar nicht. Also antworte ich: "Keine Ahnung, ich war hier noch nie." Das ist viel Ungewissheit, eingebettet in sehr viel Gegend. Und manchmal eine Belastungsprobe für die Beziehung, doch meine Frau sagt nur: "Fahr einfach!" Ich biege links ab.

Den Zufall auf Reisen entscheiden zu lassen gehört zu den besten Garanten für Entspannung. Und selbst wenn das jetzt nach Lebensberatung klingt, die keiner bestellt hat: Wer den Zufall entscheiden lässt, wird auch seltener enttäuscht. Denn ist der angesteuerte Ort einmal nicht so aufregend, kann man es immer noch auf den Zufall schieben. Unterwegs nicht nur aufregende Orte zu sehen ist ein Risiko, das Reisende immer tragen.

Gnädiger in der Beurteilung

Die Ungewissheit, was hinter der nächsten Kurve lauert, ist also fast so etwas wie die Antithese zur teuer bezahlten Pauschalreise ins Paradies. Anders als beim Produkt gewordenen Urlaub gibt es beim Reisen kein erworbenes Recht darauf, dass alles immer zu sein hat wie im Prospekt. Wenn man selbst oder der Zufall entscheidet, wohin es als Nächstes geht, ist man auch gnädiger in der Beurteilung der Reiseroute. "Das war nicht so toll heute, aber morgen wird’s bestimmt wieder wunderbar", kann sich nur leisten zu sagen, wer keinen Urlaub gebucht hat, sondern sich auf Reisen begibt.

An vielen Plätzen in Norwegen, kommt es einem fast unverschämt vor, hier ganz ohne Nachbarn seine Zelte aufschlagen zu dürfen.
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"Ist das da vorne eine reale Szene aus ‚Ice-Age?‘", fragt unser Bub. Schon an vielen Orten auf der Welt sind wir mit dem Zufall gut gefahren. Offensichtlich auch dieses Mal am Dovrefjell, wo wir beim Wandern Moschusochsen begegnen. Wilde, zottelige Wesen aus der letzten Eiszeit bevölkern diese Hochebene in Norwegen. Ihre Beobachter halten sie durch den seltsamen Mix von 400 Kilogramm Eigengewicht und einer Spitzengeschwindigkeit von 60 km/h auf Distanz. Selbst wenn uns 200 Meter Sicherheitsabstand zu den revierverteidigenden Tieren viel vorkommen, fühlen wir uns wie Entdecker. Aber sollten Moschusochsen nicht längst ausgestorben sein in Europa? Das waren sie, bis es einer kleinen aus Grönland eingewanderten Herde nach Jahrzehnten wieder gefallen hat in Norwegen.

Wir fühlen uns wie Entdecker: Sollten Moschusochsen nicht längst ausgestorben sein in Europa?
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Wer auf Reisen etwas entdecken will, muss sich mit fehlenden Gewissheiten auseinandersetzen. Sichere Häfen führen zu nichts Neuem. Sonst hätte Ferdinand Magellan vor 500 Jahren nicht den ersten praktischen Beweis für die Kugelgestalt der Erde von einer unsicheren Weltumsegelung mitgenommen. Wobei mir bewusst ist, dass der Vergleich hinkt: Magellan schaffte es bloß bis zu den Philippinen, wo er verstarb. Und niemand sollte von einer Reise nur deshalb nicht zurückkehren, um anderen etwas zu beweisen.

Die letzten freien Liegen

Gleichzeitig sollte sich niemand wundern, dass unverhoffte Entdeckungen auf Pauschalreisen oft trist aussehen. Wir fahren an die entlegensten Orte des Erdballs und fühlen uns dort unrund. Selbst in der feschesten Fototapete entdecken wir die eigene Unzufriedenheit. Weil das Sangriasaufen aus dem Kübel heuer leider wegen Eiswürfelknappheit auf Mallorca entfallen muss. Oder weil am anderen Ende der Welt auf Bali schon wieder die letzten freien Liegen am Pool mit Handtüchern reserviert wurden.

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Selbst in der feschesten Fototapete entdecken wir die eigene Unzufriedenheit, weil schon wieder die letzten freien Liegen am Pool mit Handtüchern reserviert wurden.
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"Was, hier ist noch nicht besetzt?", fragt meine Frau voller Verwunderung. Das Jedermannsrecht, das in Skandinavien Wildcampen erlaubt, beschert uns in Riechweite der Moschusochsen einen Logenplatz mit Blick auf den Fluss. Es kommt einem fast unverschämt vor, hier ganz ohne Nachbarn nächtigen zu dürfen. Als ungehöriger Luxus. Manchmal fällt es uns nicht leicht, mit so viel Freiheiten ausgestattet zu sein. Nicht zu wissen, wo wir kommende Nacht unsere Zelte aufschlagen werden. Manchen würde das Unbehagen bereiten in einer Welt für Urlauber, die den Gesetzen der Pauschal reise folgt.

Ich will mich hier bestimmt nicht lustig machen über Urlauber, die in diesem Sommer durch Engpässe oder gar Ausfälle enttäuscht wurden. Oder über Menschen, die Verbraucherrechte für verhunzte Leistungen einfordern. Die "Vollkasko-Mentalität", die jüngst in Zusammenhang mit unserem Gießkannen-Sozialstaat kritisiert wurde, erstaunt mich aber viel eher in Bezug auf unser Reiseverhalten. Wollen wir uns wirklich über alles beschweren, was auf Reisen überraschend anders passieren kann als vertraglich vereinbart? Im Urlaub soll doch hoffentlich Unerwartetes geschehen.

Seine nächsten Schritte spontan zu machen bedeutet Freiheit, vor allem für den Kopf. Ist es nicht ungemein befreiend, die Gewissheit vieler Fixpunkte auf einer vorgebuchten Reiseroute durch unseren Alltag einmal auslassen zu können? Ich bin mir sicher: Letztlich ist es der Faktor der Ungewissheit, der er quickendes Reisen von der Mühsal des Urlaubens unterscheidet. (Sascha Aumüller, 4.10.2022)