Der Westantarktische Eisschild ist einer von vielen Kipppunkten.

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Normal ist das Klima nicht mehr – das dürfte spätestens seit dem letzten Sommer, dem heißesten in Europa seit Beginn der Aufzeichnungen, klar sein. Der Kontinent wurde geradezu von Hitzewellen überrollt, mitsamt allen Konsequenzen: Wassermangel, Dürren und Waldbränden.

Erklärvideo: Was sind Kipppunkte, und verändern sie unser Klima?
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Doch im Vergleich zu dem, was kommen könnte, wenn die Klimaerwärmung ungebremst weitergeht, ist das noch erträglich. Denn die Folgen des Klimawandels verlaufen alles andere als linear. Bereits rund um das Jahr 2000 wurden in der wissenschaftlichen Community erstmals sogenannte Kipppunkte im Weltklima diskutiert. Das heißt, die Konsequenzen aus der globalen Erhitzung passieren nicht nur fortlaufend, sondern auch in Schritten, die wiederum andere Entwicklungen anstoßen und so zu einer Kettenreaktion führen. Bereits 2030 könnten die ersten Klima-Kipppunkte überschritten sein, berichten Forschende in einem kürzlich erschienenen Beitrag im Fachjournal "Science".

Schmelzen Grönlands Gletscher?

Nach dem Erreichen einer kritischen Temperatur bildet sich auf Grönlands Gletschern kein neues Eis mehr nach. Wie hoch diese Temperatur liegt, ist nicht genau bekannt – möglicherweise ist sie schon erreicht. Der Meeresspiegel würde dann um sieben Meter ansteigen und viele Küstenstädte unbewohnbar machen. Das würde zwar hunderte bis tausende Jahre dauern, doch die Entwicklung wäre unumkehrbar.

Was, wenn der Permafrost auftaut?

Nicht Wälder, sondern Böden sind die stillen CO2-Bunker der Erde. Im nördlichen Permafrost ist mehr als doppelt so viel Kohlenstoff gespeichert, wie derzeit in der Atmosphäre herumschwirrt. Gelangt dieser in die Luft, könnte sich das Klima noch weiter erwärmen. Vor allem wenn die Böden schnell auftauen und sich Seen bilden, frisst sich das Wasser immer weiter in den Permafrost.

Kollabiert der Westantarktische Eisschild?

Im Westantarktischen Eisschild lagern über 60 Prozent alles globalen Süßwassers. Genau dort könnte aber ein Kipppunkt bereits überschritten sein und sich das Abschmelzen bereits verselbstständigt haben, befürchten Wissenschafter. Vor allem der Thwaites- und auch der Doomsday-Gletscher schmelzen schneller als angenommen – das allein könnte den Meeresspiegel um 65 Zentimeter ansteigen lassen.

Stirbt der Amazonas?

Nicht nur Rodungen, sondern auch höhere Temperaturen setzen dem Amazonas-Regenwald zu. Sie machen ihn trockener, empfindlicher – und langfristig zur Savanne. Bereits heute gibt der Amazonas-Regenwald mehr Kohlenstoff ab, als er bindet, für manche ein Anzeichen dafür, dass der Wald bereits kippt. Sollte das passieren, könnte sich das Weltklima allein dadurch um weitere 0,1 bis 0,2 Grad aufheizen.

Eine Welt ohne Korallen?

Schon heute sterben immer mehr tropische Korallenriffe weltweit ab. Aus den bunten Gebilden werden dabei graue, großteils unbelebte Skelette. Das ist nicht nur ein ästhetischer Verlust: Über eine halbe Milliarde Menschen sind auf die Korallenriffe angewiesen, sei es hinsichtlich ihrer Nahrungsversorgung, ihres Einkommens oder zwecks des Küstenschutzes. Die Korallenbleiche hängt maßgeblich mit der Wassertemperatur zusammen: Wenn sich die Welt um mehr als zwei Grad erwärmt, wären so gut wie alle tropischen Korallenriffe tot. Bei einer Erwärmung um 1,5 Grad könnten hingegen bis zu ein Drittel der Korallen überleben.

Und ohne Gletscher?

In Modellrechnungen wird ersichtlich, dass die meisten nichtpolaren Gletscher bei einem Temperaturanstieg um 1,5 bis zwei Grad vor dem Verlust des Großteils ihrer Eismassen stehen. Während Europas und Südamerikas Gletscher vermutlich schon bei 1,5 Grad Celsius degradieren, scheinen die Gletscher Asiens ein paar zehntel Grad mehr auszuhalten, bevor auch sie verschwinden. Mit den Gletschern würden auch wichtige saisonale Wasserspeicher verlorengehen, die vor allem im Sommer Millionen Menschen versorgen.

In Europa könnte es kühler werden

Der Golfstrom, die Labradorsee und die Barentssee: drei Meeresströme, die das europäische Klima maßgeblich beeinflussen. Besonders das globale Förderband, der Golfstrom, bringt warmes Wasser sowie warme Luft nach Europa. Dies führt dazu, dass Regionen auf ähnlichen Breitengeraden wie beispielsweise in Kanada wesentlich kältere Winter aushalten müssen. Angetrieben von Temperatur- und Salzunterschieden in vier Ozeanen, würde ein Schmelzen von Gröndlands Eisschild sowie der Arktis die Funktionsweise von Europas Heizung infrage stellen.

Die große Ungewissheit

Doch wann diese Kipppunkte genau erreicht werden, ist höchst ungewiss. Bei vielen dürfte es aber bei einem globalen Temperaturanstieg um 1,5 bis zwei Grad so weit sein. Deshalb sehen es viele Expertinnen und Experten als essenziell an, dass der Temperaturanstieg wie vereinbart unter der 1,5-Grad-Marke bleibt.

Die drei Szenarien

Der Weltklimarat (IPCC) zeichnet in seinem aktuellen Sachstandsbericht fünf Szenarien, wie es mit dem Klima weitergehen könnte. Die sogenannten Shared Socioeconomic Pathways (SSP) beschreiben, wie sich die Menschheit weiterentwickeln wird – etwa wie schnell die Geburtenrate abnimmt, ob es mehr Konflikte geben wird, und natürlich auch, ob die Welt Klimaschutz ernst nimmt. Aus all diesen Variablen wiederum wurde errechnet, wie viel Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen und wie sehr sich die Erde erwärmen wird.

Im optimistischen Szenario (SSP1-1.9) steckt die Welt viel Geld in Bildung und Gesundheit, die Geburtenrate nimmt ab. Wohlbefinden zählt mehr als Wirtschaftswachstum, das Umweltbewusstsein nimmt zu. Die Politik setzt auf internationale Kooperation und die Erforschung umweltfreundlicher Technologien, die Welt wird bis 2050 klimaneutral. Das 1,5-Grad-Ziel wird deshalb knapp erreicht.

Das Szenario des Mittelwegs (SSP2-4.5) schreibt bisherige Entwicklungen in die Zukunft fort: Die Wirtschaft wächst regional unterschiedlich, die Ungleichheit nimmt nur langsam ab. Die CO2-Emissionen steigen bis zum Ende des Jahrhunderts weiter an – bis dahin wäre es um rund 2,7 Grad wärmer.

Im "Fossil Highway"-Szenario (SSP5-8.5) setzt die Welt auf Wettbewerb und Innovation, was die Wirtschaft ankurbelt. Hohe Investitionen in Gesundheit, Bildung und Soziales senken die Ungleichheit – allerdings wird der Wohlstand mit der Ausbeutung von noch mehr fossilen Brennstoffen erkauft. Die Klimakrise würde so eine Gesellschaft mit voller Wucht treffen: Um 4,7 Grad wärmer wäre es bis 2100. Lokale Auswirkungen könnten dank des Wohlstands ein wenig gemindert werden. (Robin Kohrs, Philip Pramer, 5.10.2022)