Hans Niemann bewegt die Schachwelt.

Foto: Saint Louis Chess Club/Lennart Ootes

Ist er Wunderkind oder Betrüger? Oder sogar beides? Hans Niemann spaltet die Schachwelt. Seit er Weltmeister Magnus Carlsen Anfang September in St. Louis überraschend bezwungen hat, dominiert der 19-jährige US-Amerikaner die sportlichen Schlagzeilen. Denn Carlsen glaubt nicht an die These vom Wunderkind, nein, der Norweger vermutet hinter dem Aufstieg des Teenagers einen riesengroßen Schwindel. Er spricht es nicht direkt aus, aber er deutet es wiederholt an. Und zwischen den Zeilen ist die Botschaft des Champions unmissverständlich.

"Gewinnen ist für mich das Wichtigste"

Hans Moke Niemann wurde 2003 in San Francisco geboren. Der Bursche dänischer und hawaiianischer Abstammung zog umher wie die Dame auf dem Schachbrett. Zunächst übersiedelte die Familie in die Niederlande, dann ging es zurück nach Kalifornien und über Connecticut nach New York. Im Alter von acht Jahren führte Niemann in Utrecht erstmals die Steine, und wer weiß, vielleicht wäre er bei seiner zweiten Leidenschaft, dem Radsport, geblieben, hätte ihm der Trainer nicht mangelndes Talent im Brettspiel unterstellt.

"Ich war motiviert, dem Coach das Gegenteil zu beweisen. Ich wollte besser sein als er", sagte Niemann Jahre später. Unter dem Tisch hatte der Schüler fortan Fachlektüre versteckt. Untertags sog er das Wissen auf, abends setzte er es gegen den Computer ein. "Ich bin ein extrem wettbewerbsorientierter Mensch, gewinnen ist für mich das Wichtigste", sagt Niemann. Und manchmal trieb er es dabei zu weit. Zweimal, im Alter von zwölf und 16 Jahren, hat der Lockenkopf auf der Plattform chess.com geschummelt. Die Trickserei hängt ihm nach.

Carlsen vs. Niemann.
Foto: Saint Louis Chess Club/Crystal Fuller

Großmeister mit 17

Niemann ist ein Spieler der neuen Generation, ein Digital Native. Seit 2018 streamt er seine Partien über Twitch, während der Pandemie stiegen seine Zuschauerzahlen schlagartig an. Um sich das Leben in New York leisten zu können, betätigte er sich zudem als Trainer und Co-Kommentator von Online-Turnieren. 2021 wurde Niemann im Alter von 17 Jahren in den Kreis der Großmeister aufgenommen. Mittlerweile ist er die Nummer 49 der Weltrangliste und hält bei einer Elo-Zahl von rund 2.700 Punkten, Tendenz steigend.

Aber hat das alles Bestand? Das wird auch von Magnus Carlsen abhängen. Bisher blieb der Norweger Beweise schuldig. "Die Leute können ihre Schlüsse ziehen. Ich hoffe, dass ich bald mehr sagen kann", sagt der Weltmeister. Das klingt weder nach einem Rückzieher noch nach stichhaltigem Material. Die Sache bleibt spannend. (Philip Bauer, 23.9.2022)